Interpretation "Irrungen, Wirrungen" von Theodor Fontane (Seite 3)

Damit offenbart sich seine Unfähigkeit zu wirklich tiefen Empfindungen, und sein "Widerwillen gegen alles Unwahre, Geschraubte, Zurechtgemachte", den er der Gesellschaft entgegenbringt, könnte sich ebenso gut gegen ihn selbst richten. Im Grunde genommen spielt Botho die Rolle des Liebenden, mehr als dass er dieser tatsächlich ist. So fällt ihm der Abschied zwar nicht leicht, doch vollzieht er ihn nach allen Regeln des Anstands mit brieflicher Vorankündigung und persönlicher Vorsprache bei der Mutter: "Und nun geben Sie mir die Hand. So. Und nun gute Nacht." Nur Lenes vermeintliche Andeutung eines Suizids droht ihn vorübergehend aus der Fassung zu bringen – hier könnte sich die Wirklichkeit seiner Kontrolle entziehen.

Letztlich erscheint Bothos Leben als dauernde Selbstinszenierung. Sei es, dass er sich von Mutter Nimptsch und Frau Dörr als adliger Galan bewundern lässt, sei es, daß er unter seinesgleichen als Einzelgänger auftritt, der "fürs Natürliche" ist und sich als Kunstkenner eingerichtet hat, oder sei es sein späteres Dahinleben als etwas melancholischer, aber im Großen und Ganzen doch glücklicher Ehemann – stets handelt es sich um eine fast theatralische Attitüde, für welche die melodramatische Blumenniederlegung am Grab der Mutter Nimptsch ein geradezu parodistisch anmutendes Beispiel gibt. Wenn es aber um die Wirklichkeit geht, bleibt Botho von diesem selbstentworfenen Bild weit entfernt und verhält sich nicht anders als alle anderen adligen Offiziere seines Alters. Ganz selbstverständlich verbringt er einen Großteil seiner Zeit mit seinen Kameraden und im Klub, wo er vollständig integriert ist. An den von ihm als oberflächlich bezeichneten Gesprächen nimmt er regen Anteil und setzt diese Art der Konversation im Hause Nimptsch und vor allem mit Frau Dörr munter fort. Ein Beispiel für seine mangelnde Bereitschaft zur ehrlichen Konfrontation mit Problemen ist seine Reaktion auf Lenes Brief: Statt auf den Inhalt (Lenes Ängste und Wünsche) einzugehen, hält er sich mit der äußeren Form (Lenes Rechtschreibung) auf: "Wie gut sie schreibt! Kalligraphisch gewiß und orthographisch beinah [...] der Brief ist wie Lene selber, gut, treu, zuverlässig, und die Fehler machen ihn nur noch reizender."

Ähnlich gestaltet sich sein Auftreten nach der gemeinsamen Liebesnacht in Hankels Ablage. Beim unerwarteten Eintreffen seiner Freunde und deren Geliebten unternimmt Botho nichts, um seine Intimität mit Lene zu wahren, sondern geht sofort auf deren 'Spiel' ein. Dadurch stellt er Lene auf die gleiche Stufe mit den 'Ausgehaltenen', was sich auch rein äußerlich am gemeinsamen Spaziergang der vier Frauen festmachen lässt.

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