Interpretation "Das Schloß" von Franz Kafka (Seite 3)

"Das war einerseits ungünstig für ihn, denn es zeigte, daß man im Schloß alles Nötige über ihn wußte, die Kräfteverhältnisse abgewogen hatte und den Kampf lächelnd aufnahm. Es war aber andererseits auch günstig, denn es bewies, seiner Meinung nach, daß man ihn unterschätzte und daß er mehr Freiheit haben würde, als er hätte von vornherein hoffen dürfen. Und wenn man glaubte, durch diese geistig gewiß überlegene Anerkennung seiner Landvermesserschaft ihn dauernd in Schrecken halten zu können, so täuschte man sich; es überschauerte ihn leicht, das war aber alles."

Welches Spiel wird hier gespielt? Ist K. ein Wirrkopf, der völlig zu unrecht glaubt, eine Behörde würde einen Kampf mit ihm aufnehmen, nur weil sie ihn für einen Landvermesser hält, der er nicht ist? Offensichtlich nicht, denn was hier noch wie Verfolgungswahn wirkt, ist in Wahrheit gut begründet: Die Behörde scheint seine Lüge durchschaut zu haben und spielt das Spiel mit. Indem die Schlossbehörde ihm die beiden Gehilfen schickt, die behaupten, seine alten Gehilfen zu sein, geht sie scheinbar auf seine Fiktion ein. K. lässt sich dadurch nicht überrumpeln, sondern fragt die vermeintlichen Gehilfen nach den Instrumenten, die er ihnen angeblich gegeben hat, und ob sie etwas von Landvermessung verstehen, was aber nicht der Fall ist. K. weiß also, dass Artur und Jeremias nicht seine alten Gehilfen sind, denn er hatte nie welche; die Behörde weiß das ebenfalls, da sie die beiden Männer schließlich geschickt hat, tut aber so, als wäre sie überzeugt, es mit einem Landvermesser und seinen beiden Gehilfen zu tun zu haben. Schließlich wird K. auch noch für seine Landvermessungsarbeiten belobigt, obwohl man im Schloss doch offensichtich weiß, dass er keine solchen Arbeiten ausführt. Möglicherweise hat K. recht, und die Behörde will damit ihre Überlegenheit demonstrieren. Auch wenn man den von Kafka geplanten Schluss in Betracht zieht, den er seinem Freund und Herausgeber Max Brod mündlich mitgeteilt hat, bleibt unklar, ob die Behörde hier wirklich einen Kampf aufnehmen wollte: Einerseits spricht dafür, dass K. zuletzt ja wirklich der Unterlegene ist, da er an Entkräftung stirbt, andererseits wird ihm von der Behörde schließlich der Aufenthalt bewilligt.

K.s Verhaltensweise bleibt nicht weniger dunkel: Der oben erwähnten Textstelle zufolge hat er ja anfangs nur geplant, als Knecht sein Auskommen zu finden. Seine Halsstarrigkeit erinnert ein wenig an Kleists Michael Kohlhaas: Er spricht davon, dass er endlich sein Recht bekommen will, als Landvermesser zu arbeiten – nur dass er kein Landvermesser ist und ihm also kein solches Recht zusteht, unterscheidet ihn grundlegend von Kleist Figur. K. ist keineswegs sympathisch in seinen Methoden, auch wenn man als Leser im Kampf gegen die Behörde auf seiner Seite ist. Dass er Frieda nur benützt, um an Klamm heranzukommen, wie die Wirtin des Brückenhofs glaubt, ist nicht unwahrscheinlich. Umgekehrt ist die Überzeugung Pepis, dass Frieda ihn benützen wollte und die Affäre aus Berechnung begonnen hat, offensichtlich absurd. Sie zeigt allerdings, in welchem Ausmass die Dorfbewohner von paranoiden Vostellungen besessen sind. Jeder, nicht nur K., scheint in der Verhaltensweise des anderen und besonders in der der Behörde eine perfide Strategie zu vermuten; ganz gleich, ob das der Fall ist oder nicht. Es ist eine Welt des Misstrauens, der Angst und der Kälte. Alles scheint durch genaue Vorschriften reglementiert, bei deren Übertretung Fürchterliches droht; der vorauseilende Gehorsam ist zur allgemeinen Tugend perfektioniert worden, ohne dass die implizit drohenden Strafen je eingetreten wären.

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