Interpretation "Hyperion" von Friedrich Hölderlin (Seite 3)

Hölderlins Wahrnehmung einer entgötterten Welt ist modern und archaisch zugleich. Modern in der radikalen Loslösung von tradierten theologischen Modellen und in der Überwindung rationalistischer Positionen, archaisch in der Rückwendung zum magischen Lebensgefühl längst vergangener Zeiten und in der Konzeption der Rolle des Dichters als priesterähnlicher Verkünder des Göttlichen.

"Was bleibet aber, stiften die Dichter" heißt die letzte Zeile der Hymne Andenken; Simon Dach hatte gut 150 Jahre vorher ein Gedicht mit den Worten abgeschlossen: "Es ist kein Reim, wofern ihn Geist vnd Leben schreibt, / Der vnß der Ewigkeit nicht eilends einverleibt" und sich damit auf die Ode des Horaz berufen Exegi monumentum aere perennius [Ich habe ein Denkmal geschaffen, das haltbarer ist als Erz]. Ging es hier um eine Überhöhung der Wirklichkeit durch Poesie, so hat sich die Richtung des Vorgangs im ausgehenden 18. Jahrhundert umgedreht: nicht die Kunst erhebt mehr ihren Gegenstand, sondern sie selbst wird zum Ausdruck der Verbindung zum Transzendenten. Goethe lässt seinen Tasso ausrufen: "Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide." – Hölderlin geht noch weiter: die Aufgabe des Dichters ist es nicht, das persönliche oder allgemeine Leid auszudrücken, "denn es gilt ein anders", sagt er in der Ode Dichterberuf:

"Zu Sorg und Dienst den Dichtenden anvertraut!
Der Höchste, der ists, dem wir geeignet sind,
Daß näher, immerneu besungen,
Ihn die befreundete Brust vernehme."

Hölderlins Auffassung vom Dichtertum hat in der Titelfigur seines unvollendeten dramatischen Versuches Der Tod des Empedokles ihre wohl konsequenteste Ausformung gefunden. Der griechische Philosoph und Dichter Empedokles, der im 5. vorchristlichen Jahrhundert auf Sizilien lebt, auch als Priester und Arzt wirkt und als Volksführer an der Beseitigung der Oligarchie beteiligt ist, gibt die ideale Vorlage für Hölderlins Darstellung der Dichter-Problematik ab. Seine dunklen, der orphischen Mystik verbundenen Schriften enthalten Elemente von unübersehbarer Affinität mit Hölderlins Denken; seinen legendären Freitod in den Flammen des Ätna sieht der spätgeborene Geistesverwandte nicht als Akt der Verzweiflung, sondern als Vollzug der Wiedervereinigung, also auch der Versöhnung mit dem Göttlichen: der Natur.

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