Interpretation "Leonce und Lena" von Georg Büchner (Seite 2)

Doch mit dieser ins Auge springenden Lesart ist, wie gesagt, nur ein Aspekt des Textes erfasst. Büchners Angriff richtet sich gegen mehr. König Peter etwa ist nicht lediglich das Abziehbild eines bedeutungslosen Staatsoberhaupts. Seine Maxime lautet: "Der Mensch muß denken", eine Aufgabe, die er für seine Untertanen glaubt übernehmen zu müssen. Hier geht Büchner schonungslos mit der idealistischen Philosophie ins Gericht; Peters 'Denken' produziert fortwährend Unsinn: "Die Substanz ist das 'an sich', das bin ich." Mit der parodistischen Verwendung philosophischer Termini ("Attribute, Modificationen, Affectionen und Accidenzien") wird die damalige Philosophie als für die Lösung gesellschaftlicher Probleme völlig irrelevante – und dadurch das Unrechtssystem letztlich unterstützende – Disziplin angeprangert: Der König tritt am Ende ab, um "ungestört jetzt bloß nur noch zu denken."

Ebenso distanziert sich der Text von einer anderen eskapistischen Tendenz seiner Zeit: der Romantik.

"VALERIO. Ich werde mich indessen in das Gras legen und meine Nase oben zwischen den Halmen herausblühen lassen und romantische Empfindungen beziehen, wenn die Bienen und Schmetterlinge sich darauf wiegen, wie auf einer Rose."

Deutlicher kann die Ablehnung einer Haltung, die sich von der Lebensrealität abwendet, um im Bereich des Ästhetischen Erfüllung zu suchen, kaum ausfallen. Das Zitat macht nicht nur die romantische Schule im engeren Sinne lächerlich, sondern bezieht – vielleicht sogar in erster Linie – die Lyrik des Biedermeier mit ein, deren Hang zur Idylle im krassen Gegensatz zur politisch engagierten Literatur im Umfeld des Jungen Deutschland steht.

Bei aller satirischen Schärfe ist Leonce und Lena jedoch von zahlreichen Ambiguitäten geprägt. Vor allem die (durchaus als Sympathieträger gezeichneten) Figuren Leonce und Valerio lassen keine 'einfache' Deutung zu. Beide sind als notorische Nichts-Tuer charakterisiert; Valerio erklärt: "ich habe die große Beschäftigung, müßig zu gehen", worauf Leonce begeistert entgegnet: "Komm an meine Brust! Bist du einer von den Göttlichen [...]." Zwar kann dies als zynisches Bekenntnis des Adels zur eigenen asozialen Rolle gelesen werden, doch greift diese Auslegung zu kurz. Die Langeweile wird von Leonce durchaus als krankhafter Zustand gesehen: "Es krassirt ein entsetzlicher Müßiggang. – Müßiggang ist aller Laster Anfang. – Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studiren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheirathen und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich an der Langeweile und – und das ist der Humor davon – Alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken warum, und meinen Gott weiß was dabei. Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe, diese Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im Grunde nichts als raffinirte Müßiggänger."

Hier wird eine Art Zivilisationskrankheit diagnostiziert, mit der das Stück eine weit über das Sozialkritische gehende Komponente gewinnt. Den defizitären gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen wird kein realistisches Modell als Alternative entgegengestellt, die entworfene 'Utopie' am Schluss des Dramas ist in ihrer Fragwürdigkeit Ausdruck einer Sehnsucht, die, unabhängig von konkreten politischen Umständen, tief im menschlichen Bewußtsein verankert ist: "[...] und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine kommode Religion!"

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