Interpretation "Schach von Wuthenow" von Theodor Fontane (Seite 5)

Aber erst ein weiteres Phantasiebild seiner Zukunft, das offensichtlich das erschreckendste für ihn ist, führt die Entscheidung herbei: Er stellt sich vor, dass Victoire und er selbst sich eines Tages für die Ahnengalerie malen lassen würden. Er würde im Rang eines kleinen Rittmeisters zwischen die Bilder seiner Vorfahren einrücken, die allesamt Generäle und Oberste waren, dekoriert mit dem Schwarzen Adlerorden oder dem Pour le Mérit, und das Bild der hässlichen Victoire würde zwischen denjenigen der schönen Frauen hängen. Und so sehr die Lebendigkeit und die kraftvolle Emotionalität Victoires ihn einmal bezaubern konnten – Schach weiß doch, dass der Porträtmaler nichts anderes fixieren könnte als die unschöne Oberfläche. Erst jetzt kommt es zur unwiderruflichen Entscheidung, dem eindeutigen "Nein, nein." Als der König ihn aufgrund des Bittgesuchs von Victoires Mutter zwingt, Victoire zu heiraten, bleibt er bei dieser Entscheidung. Er heiratet Victoire, gibt ihr damit seinen Namen und schützt ihre Ehre durch die Legitimation des Kindes. Liebevoll nimmt er von ihr Abschied, dann zieht er die tödliche Konsequenz.

Die beiden Briefe, die den Schluss der Erzählung bilden, reflektieren noch einmal die Person Schachs aus verschiedenen Perspektiven. Bülow, der ihn nie leiden konnte, sieht auch seinen Suizid aus einem verzerrten Blickwinkel. Seiner Überzeugung nach ist der 'Schach-Fall' ein Symptom des allgemeinen Zustands der preußischen Gesellschaft, die künstlich und hohl geworden ist. Er sieht ihn als Teilnehmer an einem 'Kult der falschen Ehre', als Repräsentant einer Welt des Scheins, an der auch der preußische Staat zugrunde gehen wird. Hinsichtlich der Gesellschaft und der militärischen Elite liegt Bülow offensichtlich richtig: Wie die von Schachs Kameraden inszenierte Schlittenfahrt beweist, geht es einem großen Teil der Offiziere des Eliteregiments wirklich nur darum, von sich reden zu machen. Für sie zählt nur der Effekt, für den sie bereit sind, alle Werte in den Schmutz zu ziehen. Bülow irrt sich nur darin, dass er Schach für einen typischen Repräsentanten dieses Gesellschaftszustands hält. Das Gegenteil ist der Fall: Schach nimmt an der Schlittenfahrt nicht teil, weil er mit der Herabwürdigung Luthers nichts zu tun haben will. Die Werte und Ideale, denen er sich verschrieben hat, verteidigt er nicht nur zum Schein, er will sie mit Leib und Seele verkörpern. Er will der absolut tadellose, in jeder Hinsicht perfekte preußische Offizier sein – und an diesem Perfektionismus geht er zugrunde.

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