Ungekürztes Werk "Die Leiden des Jungen Werthers" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 58)

Ohr sagen wollte. Der verriet ihm, daß die großen Brüder hätten schöne Neujahrswünsche geschrieben, so groß, und einen für den Papa, für Albert und Lotte einen und auch einen für Herrn Werther. Die wollten sie des Neujahrstags früh überreichen.

Das übermannte ihn, er schenkte jedem was, setzte sich zu Pferde, ließ den Alten grüßen und ritt mit Tränen in den Augen davon.

Gegen fünfe kam er nach Hause, befahl der Magd, nach dem Feuer zu sehen und es bis in die Nacht zu unterhalten. Dem Bedienten hieß er Bücher und Wäsche unten in den Koffer packen und die Kleider einnähen. Darauf schrieb er wahrscheinlich folgenden Absatz seines letzten Briefes an Lotten.

Du erwartest mich nicht. Du glaubst, ich würde gehorchen und erst Weihnachtsabend Dich wiedersehn. O Lotte! Heut oder nie mehr. Weihnachtsabend hältst Du dieses Papier in Deiner Hand, zitterst und benetzt es mit Deinen lieben Tränen. Ich will, ich muß! O wie wohl ist mir's, daß ich entschlossen bin.

Um halb sieben ging er nach Albertens Hause und fand Lotten allein, die über seinen Besuch sehr erschrocken war. Sie hatte ihrem Manne im Diskurs gesagt, daß Werther vor Weihnachtsabend nicht wiederkommen würde. Er ließ bald darauf sein Pferd satteln, nahm von ihr Abschied und sagte, er wolle zu einem Beamten in der Nachbarschaft reiten, mit dem er Geschäfte abzutun habe, und so machte er sich trutz der übeln Witterung fort. Lotte, die wohl wußte, daß er dieses Geschäft schon lange verschoben hatte, daß es ihn eine Nacht von Hause halten würde, verstund die Pantomime nur allzu wohl und ward herzlich betrübt darüber. Sie saß in ihrer Einsamkeit, ihr Herz ward weich, sie sah das Vergangene, fühlte all ihren Wert und ihre Liebe zu ihrem Manne, der nun statt des versprochenen Glücks anfing, das Elend ihres Lebens zu machen. Ihre Gedanken fielen auf Werthern. Sie schalt ihn und konnte ihn nicht hassen. Ein geheimer Zug hatte ihr ihn vom Anfange ihrer Bekanntschaft teuer gemacht, und nun, nach so viel Zeit, nach so manchen durchlebten Situationen, mußte sein Eindruck unauslöschlich in ihrem Herzen sein. Ihr gepreßtes Herz machte sich endlich in Tränen Luft und ging in eine stille Melancholie über, in der sie sich je länger je tiefer verlor. Aber wie schlug ihr Herz, als sie Werthern die Treppe heraufkommen und außen nach ihr fragen hörte. Es war zu spät, sich verleugnen zu lassen, und sie konnte sich nur halb von ihrer Verwirrung ermannen, als er ins Zimmer trat. »Sie haben nicht Wort gehalten!« rief sie ihm entgegen. »Ich habe nichts versprochen«, war seine Antwort. »So hätten Sie mir wenigstens meine Bitte gewähren sollen«, sagte sie, »es war Bitte um unserer beider Ruhe willen.« Indem sie das sprach, hatte sie bei sich überlegt, einige ihrer Freundinnen zu sich rufen zu lassen. Sie sollten Zeugen ihrer Unterredung mit Werthern sein, und abends, weil er sie nach Hause führen mußte, ward sie ihn zur rechten Zeit los. Er hatte ihr einige Bücher zurückgebracht, sie fragte nach einigen andern und suchte das Gespräch, in Erwartung ihrer Freundinnen, allgemein

Seiten