Ungekürztes Werk "Egmont" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 34)

Klärchens Haus

Klärchen kommt mit einer Lampe und einem Glas Wasser aus der Kammer, sie setzt das Glas auf den Tisch und tritt ans Fenster: Brackenburg? Seid Ihr’s? Was hört ich denn? noch niemand? Es war niemand! Ich will die Lampe ins Fenster setzen, daß er sieht, ich wache noch, ich warte noch auf ihn. Er hat mir Nachricht versprochen. Nachricht? Entsetzliche Gewißheit! – Egmont verurteilt! – Welch Gericht darf ihn fordern? und sie verdammen ihn! Der König verdammt ihn? oder der Herzog? Und die Regentin entzieht sich! Oranien zaudert und alle seine Freunde! – Ist dies die Welt, von deren Wankelmut, Unzuverlässigkeit ich viel gehört und nichts empfunden? Ist dies die Welt? – Wer wäre bös genug, den Teuren anzufeinden? Wäre Bosheit mächtig genug, den allgemein Erkannten schnell zu stürzen? Doch ist es so – es ist! – O Egmont, sicher hielt ich dich vor Gott und Menschen, wie in meinen Armen! Was war ich dir? Du hast mich dein genannt, mein ganzes Leben widmet ich deinem Leben. – Was bin ich nun? Vergebens streck ich nach der Schlinge, die dich faßt, die Hand aus. Du hülflos, und ich frei! – Hier ist der Schlüssel zu meiner Türe. Au meiner Willkür hängt mein Gehen und mein Kommen, und dir bin ich zu nichts! – – O bindet mich, damit ich nicht verzweifle, und werft mich in den tiefsten Kerker, daß ich das Haupt an feuchte Mauern schlage, nach Freiheit winsle, träume, wie ich ihm helfen wollte, wenn Fesseln mich nicht lähmten, wie ich ihm helfen würde. – Nun bin ich frei, und in der Freiheit liegt die Angst der Ohnmacht. – Mir selbst bewußt, nicht fähig, ein Glied nach seiner Hülfe zu rühren. Ach leider, auch der kleine Teil von deinem Wesen, dein Klärchen, ist wie du gefangen und regt getrennt im Todeskrampfe nur die letzten Kräfte. – Ich höre schleichen, husten – Brackenburg – er ist’s! – Elender guter Mann, dein Schicksal bleibt sich immer gleich: dein Liebchen öffnet dir die nächtliche Türe, und ach, zu welch unseliger Zusammenkunft!

Brackenburg tritt auf.

Klärchen: Du kommst so bleich und schüchtern, Brackenburg; was ist’s?

Brackenburg: Durch Umwege und Gefahren such ich dich auf. Die großen Straßen sind besetzt, durch Gäßchen und durch Winkel hab ich mich zu dir gestohlen.

Klärchen: Erzähl, wie ist’s?

Brackenburg: indem er sich setzt: Ach Kläre, laß mich weinen. Ich liebt ihn nicht. Er war der reiche Mann und lockte des Armen einziges Schaf zur bessern Weide herüber. Ich hab ihn nie verflucht; Gott hat mich treu geschaffen und weich. In Schmerzen floß mein Leben von mir nieder, und zu verschmachten hofft ich jeden Tag.

Klärchen: Vergiß das, Brackenburg! Vergiß dich selbst. Sprich mir von ihm! Ist’s wahr? Ist er verurteilt?

Brackenburg: Er ist’s, ich weiß es ganz genau.

Klärchen: Und lebt noch?

Brackenburg: Ja, er lebt noch.

Klärchen: Wie willst du das versichern? – Die Tyrannei ermordet in der Nacht den Herrlichen, vor allen Augen verborgen fließt sein Blut. Ängstlich im Schlafe liegt das betäubte Volk und träumt von Rettung, träumt ihres ohnmächtigen Wunsches Erfüllung, indes, unwillig über uns, sein Geist die Welt verläßt. Er ist dahin! – Täusche mich nicht! dich nicht!

Brackenburg: Nein gewiß, er lebt! – Und leider, es bereitet der Spanier dem Volke, das er zertreten will, ein fürchterliches Schauspiel, gewaltsam jedes Herz, das nach der Freiheit sich regt, auf ewig zu zerknirschen.

Klärchen: Fahr fort und sprich gelassen auch mein Todesurteil aus! Ich wandle den seligen Gefilden schon näher und näher, mir weht der Trost aus jenen Gegenden des Freidens schon herüber. Sag an!

Seiten