Ungekürztes Werk "Egmont" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 37)

Egmont: hat eine Weile, in sich versenkt, stille gestanden und Silva, ohne sich umzusehn, abgehen lassen. Er glaubt sich allein, und da er die Augen aufhebt, erblickt er Albas Sohn: Du stehst und bleibst? Willst du mein Erstaunen, mein Entsetzen noch durch deine Gegenwart vermehren? Willst du noch etwa die willkommne Botschaft deinem Vater bringen, daß ich unmännlich verzweifle! Geh! Sag ihm! Sag ihm, daß er weder mich noch die Welt belügt. Ihm, dem Ruhmsüchtigen, wird man es erst hinter den Schultern leise lispeln, dann laut und lauter sagen, und wenn er einst von diesem Gipfel herabsteigt, werden tausend Stimmen es ihm entgegenrufen: Nicht das Wohl des Staats, nicht die Würde des Königs, nicht die Ruhe der Provinzen haben ihn hierhergebracht. Um sein selbst willen hat er Krieg geraten, daß der Krieger im Kriege gelte, er hat diese ungeheure Verwirrung erregt, damit man seiner bedürfe. Und ich falle, ein Opfer seines niedrigen Hasses, seines kleinlichen Neides. Ja, ich weiß es, und ich darf es sagen, der Sterbende, der tödlich Verwundete kann es sagen: mich hat der Eingebildete beneidet, mich wegzutilgen hat er lang gesonnen und gedacht.

Schon damals, als wir, noch jünger, mit Würfeln spielten, die Haufen Goldes, einer nach dem andern, von seiner Seite zu mir herübereilten, da stand er grimmig, log Gelassenheit, und innerlich verzehrt’ ihn die Ärgernis, mehr über mein Glück als über seinen Verlust. Noch erinnre ich mich des funkelnden Blickes, der verrätrischen Blässe, als wir an einem öffentlichen Feste vor vielen tausend Menschen um die Wette schossen. Er forderte mich auf, und beide Nationen standen, die Spanier, die Niederländer, wetteten und wünschten. Ich überwand ihn: seine Kugel irrte, die meine traf; ein lauter Freudenschrei der Meinigen durchbrach die Luft. Nun trifft mich sein Geschoß. Sag ihm, daß ich’s weiß, daß ich ihn kenne, daß die Welt jede Siegszeichen verachtet, die ein kleiner Geist erschleichend sich aufrichtet. Und du, wenn einem Sohne möglich ist, von der Sitte des Vaters zu weichen, übe beizeiten die Scham, indem du dich für den schämst, den du gerne von ganzem Herzen verehren möchtest.

Ferdinand: Ich höre dich an, ohne dich zu unterbrechen! Deine Vorwürfe lasten wie Keulschläge auf einen Helm, ich fühle die Erschütterung, aber ich bin bewaffnet. Du triffst mich, du verwundest mich nicht: fühlbar ist mir allein der Schmerz, der mir den Busen zerreißt. Wehe mir! Wehe! Zu einem solchen Anblick bin ich aufgewachsen, zu einem solchen Schauspiele bin ich gesendet!

Egmont: Du brichst in Klagen aus? Was rührt, was bekümmert dich? Ist es eine späte Reue, daß du der schändlichen Verschwörung deinen Dienst geliehen? Du bist so jung und hast ein glückliches Ansehn. Du warst so zutraulich, so freundlich gegen mich; solang ich dich sah, war ich mit deinem Vater versöhnt. Und ebenso verstellt, verstellter als er, lockst du mich in das Netz. Du bist der Abscheuliche! Wer ihm traut, mag er es auf seine Gefahr tun – wer fürchtete Gefahr, dir zu vertrauen? Geh! Geh! Raube mir nicht die wenigen Augenblicke! Geh, daß ich mich sammle, die Welt und dich zuerst vergesse!

Ferdinand: Was soll ich dir sagen? Ich stehe und sehe dich an und sehe dich nicht und fühle mich nicht. Soll ich mich entschuldigen? Soll ich dich versichern, daß ich erst spät, erst ganz zuletzt des Vaters Absichten erfuhr, daß, ich als ein gezwungnes, ein lebloses Werkzeug seines Willens handelte? Was fruchtet’s, welche Meinung du von mir haben magst? Du bist verloren, und ich Unglücklicher stehe nur da, um dich’s zu versichern, dich zu bejammern.

Egmont: Welche sonderbare Stimme, welch ein unerwarteter Trost begegnet mir auf dem Weg zum Grabe? Du, Sohn meines ersten, meines fast einzigen Feindes, du bedauerst mich, du bist nicht unter meinen Mördern? Sag, rede! für wen soll ich dich halten?

Ferdinand: Grausamer Vater! Ja, ich erkenne dich in diesem Befehle! Du kanntest mein Herz, meine Gesinnung, die du so oft als Erbteil einer zärtlichen Mutter schaltest. Mich dir gleich zu bilden, sandtest du mich hierher. Diesen Mann am Rande des gähnenden Grabes, in der Gewalt eines willkürlichen Todes zu sehen, zwingst du mich, daß ich den tiefsten Schmerz empfinde, daß ich taub gegen alles Schicksal, daß ich unempfindlich werde, es geschehe mir, was wolle.

Egmont: Ich erstaune! Fasse dich! Stehe, rede wie ein Mann.

Ferdinand: O daß ich ein Weib wäre! Daß man mir sagen könnte: was rührt dich? was ficht dich an? Sage mir ein größeres, ein ungeheureres Übel, mache mich zum Zeugen einer schrecklicheren Tat – ich will dir danken, ich will sagen: es war nichts.

Egmont: Du verlierst dich. Wo bist du?

Ferdinand: Laß diese Leidenschaft rasen, laß mich losgebunden klagen! Ich will nicht standhaft scheinen, wenn alles in mir zusammenbricht. Dich soll ich hier sehn? – Dich – es ist entsetzlich! Du verstehst mich nicht! Und sollst du mich verstehn? Egmont! Egmont! Ihm um den Hals fallend.

Egmont: Löse mir das Geheimnis.

Ferdinand: Kein Geheimnis.

Egmont: Wie bewegt dich so tief das Schicksal eines fremden Mannes?

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