Interpretation "Die Wahlverwandschaften" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 3)

Eduard dagegen ist das aktiv-fordernde, leidenschaftliche Element der Natur, nicht gewohnt, sich "etwas zu versagen", nicht bereit, auf bürgerliche Konventionen Rücksicht zu nehmen. Er ist es auch, der sich der naturhaften Notwendigkeit der Attraktion durch Ottilie vorbehaltlos hingibt: "Wie töricht! rief er aus, das Unentbehrlichste, Notwendigste vorsätzlich, voreilig wegzuwerfen [...]. Und was soll das heißen? Doch nur, daß der Mensch ja scheine, wollen, wählen zu können." Das ist deutlich: Die Freiheit des Menschen, die sich auch in einer freien Wahl seines Partners niederschlägt, wird zur Illusion; dieser Illusion zuliebe verzichten letztlich Charlotte und der Hauptmann: ein verzwicktes, wie oft bei Goethe bei näherem Hinsehen rabenschwarzes Menschenbild. Denn zugespitzt ausgedrückt erschöpft sich das 'Über-die-Elemente-Erhöht-Sein', das erst eigentlich den Menschen zum Menschen macht, in der Freiheit zu verzichten.

Dem entspricht die letzten Endes paradoxe Situation, dass die je verschieden gepolten, aber beide der Naturordnung verhafteten Gestalten Eduard und Ottilie an den auf den ersten Blick so positiv-humanen Forderungen wie Vernunft, Tugend und Pflicht zugrundegehen. Ihre Neigung lässt sich auf dieser Welt nicht verwirklichen, eine Vereinigung im Jenseits wird aber vom Autor nicht ausgeschlossen.

Es sei dahingestellt, ob Goethe den Tristan Gottfried von Straßburgs schon kannte oder kennen konnte. Das tristanhafte Ende der Wahlverwandtschaften jedenfalls verweist darauf, dass es sich in diesem Roman u. a. auch um eine große Liebesgeschichte oder die Geschichte einer großen Liebe handelt. Und solche Geschichten entstehen immer gegen den Widerstand der Gesellschaft (vgl. Romeo und Julia), solchen Lieben ist ihre Unerfüllbarkeit immanent (vgl. Werther).

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