Interpretation "Torquato Tasso" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 2)

In Antonios Lob des Ariost erscheint der Renaissance-Dichter als Vertreter der Aufklärung: »Zufriedenheit, Erfahrung und Verstand« hülle Ariost »Ins blühende Gewand der Fabel ein« (I, 4); und die darauf folgenden Verse sind nichts anderes als eine ebenso meisterhafte wie böse Satire Goethes auf das Unverbindlich-Spielerische der Rokoko-Dichtung: "Umkränzt von Rosen, wunderlich umgaukelt/Vom losen Zauberspiel der Amoretten./Der Quell des Überflusses rauscht darneben/Und läßt uns bunte Wunderfische sehn./Von seltenem Geflügel ist die Luft,/Von fremden Herden Wies' und Busch erfüllt;/Die Schalkheit lauscht im Grünen halb versteckt,/Die Weisheit läßt von einer goldnen Wolke/Von Zeit zu Zeit erhabne Sprüche tönen [...]." (I, 4)

Antonio hält solch erbauliche Tändelei für große Dichtung; die Ignoranz des Tatmenschen gegenüber der Kunst könnte kaum prägnanter dargestellt werden. Der 'Held' zeigt damit ein bestürzendes geistiges Defizit. Doch wie steht es andererseits um den Vertreter des Geistes, um Tasso?Auch er ist fundamental defizitär angelegt: Ihm fehlt die Fähigkeit zum Handeln, und er ist sich dieses Mangels bewusst, weswegen er in permanenter 'Beschämung' lebt, d. h., im Bewusstsein seines Unwerts. Er fühlt, dass er seine Liebe zur Prinzessin "nicht mit Worten", sondern "mit der Tat" (II, 1) beweisen muss. Nur ist die Position Tassos am Hofe Alfonsos gar nicht geeignet, tätig zu werden, und niemand erwartet es eigentlich von ihm. Er ist zweifellos materiell abhängig vom Mäzenatentum des Fürsten; er spricht davon, dass es der Fürst war, der ihn "zu einer schönen Freiheit [...] erhob" (I, 3) – später jedoch gibt er zu: "Er ist mein Fürst! – Doch glaube nicht, daß mir / Der Freiheit wilder Trieb den Busen blähe. / Der Mensch ist nicht geboren, frei zu sein, [...]" (II, 1). In diesem resignativen Ausspruch kommt Tassos psychische Problematik zum Ausdruck, die aus der Unzufriedenheit mit seiner Rolle als 'Zuschauer' erwächst. Diese Rolle ist ihm aber gesellschaftlich aufgedrängt: "Zwar herrlich ist die liedeswerte Tat,/Doch schön ist's auch, der Taten stärkste Fülle/Durch würd'ge Lieder auf die Nachwelt bringen./Begnüge dich, aus einem kleinen Staate,/Der dich beschützt, dem wilden Lauf der Welt,/Wie von dem Ufer, ruhig zuzusehen." (II, 1)

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