Ungekürztes Werk "Der Scheich von Alexandria und seine Sklaven" von Wilhelm Hauff (Seite 36)
oder Feenspuk wie im Märchen, sondern durch sich selbst oder die sonderbare Fügung der Umstände reich oder arm, glücklich oder unglücklich wird.«
»Richtig!« erwiderte einer der jungen Leute. »Solche reine Geschichten finden sich auch in den herrlichen Erzählungen der Scheherazade, die man Tausendundeine Nacht nennt. Die meisten Begebenheiten des Königs Harun al-Raschid und seines Wesirs sind dieser Art. Sie gehen verkleidet aus und sehen diesen oder jenen höchst sonderbaren Vorfall, der sich nachher ganz natürlich auflöst.«
»Und dennoch werdet ihr gestehen müssen«, fuhr der Alte fort, »daß jene Geschichten nicht der schlechteste Teil der Tausendundeine Nacht sind. Und doch – wie verschieden sind sie in ihren Ursachen, in ihrem Gang, in ihrem ganzen Wesen von den Märchen eines Prinzen Biribinker oder der drei Derwische mit einem Auge oder des Fischers, der den Kasten, verschlossen mit dem Siegel Salomos, aus dem Meer zieht! Aber am Ende ist es dennoch eine Grundursache, die beiden ihren eigentümlichen Reiz gibt, nämlich das, daß wir etwas Auffallendes, Außergewöhnliches miterleben. Bei dem Märchen liegt dieses Außergewöhnliche in jener Einmischung eines fabelhaften Zaubers in das gewöhnliche Menschenleben; bei den Geschichten geschieht etwas zwar nach natürlichen Gesetzen, aber auf überraschende, ungewöhnliche Weise.«
»Sonderbar!« rief der Schreiber. »Sonderbar, daß uns dann dieser natürliche Gang der Dinge ebenso anzieht wie der übernatürliche im Märchen. Worin mag dies wohl liegen?«
»Das liegt in der Schilderung des einzelnen Menschen«, antwortete der Alte. »Im Märchen häuft sich das Wunderbare so sehr, der Mensch handelt so wenig mehr aus eigenem Trieb, daß die einzelnen Figuren und ihr Charakter nur flüchtig gezeichnet werden können. Anders bei der gewöhnlichen Erzählung, wo die Art, wie jeder seinem Charakter gemäß spricht und handelt, die Hauptsache und das Anziehende ist.«
»Wahrlich, Ihr habt recht!« erwiderte der junge Kaufmann. »Ich habe mir nie Zeit genommen, so recht darüber nachzudenken, habe alles nur so gesehen und an mir vorübergehen lassen, habe mich an dem einen ergötzt, das andere langweilig gefunden, ohne gerade zu wissen, warum. Aber Ihr gebt uns da einen Schlüssel, der uns das Geheimnis öffnet; einen Probierstein, worauf wir die Probe machen und richtig urteilen können.«
»Tuet das immer«, antwortete der Alte, »und euer Genuß wird sich vergrößern, wenn ihr nachdenken lernt über das, was ihr gehört. Doch siehe, dort erhebt sich wieder ein neuer, um zu erzählen.«
So war es; und der andere begann:
Der junge Engländer
Herr, ich bin ein Deutscher von Geburt und habe mich in Euren Landen zu kurz aufgehalten, als daß ich ein persisches Märchen oder eine ergötzliche Geschichte von Sultanen und Wesiren erzählen könnte; Ihr müßt mir daher schon erlauben, daß ich etwas aus meinem Vaterland erzähle, was Euch vielleicht auch einigen Spaß macht. Leider sind unsere Geschichten nicht immer so vornehm wie die Euren, das heißt, sie handeln nicht von Sultanen oder unseren Königen, nicht von Wesiren und Paschas – was man bei uns Justiz- und Finanzminister, auch Geheimräte und dergleichen nennt –, sondern sie leben, wenn sie nicht von Soldaten handeln, gewöhnlich ganz bescheiden und unter den Bürgern.
Im südlichen Teil von Deutschland liegt das Städtchen Grünwiesel, wo ich geboren