Ungekürztes Werk "Märchen als Almanach" von Wilhelm Hauff (Seite 2)
mehr findet. Ach, wie gut haben es meine Brüder, die Träume; fröhlich und leicht hüpfen sie auf die Erde hinab, fragen nicht nach jenen klugen Männern, besuchen die schlummernden Menschen und weben und malen ihnen, was das Herz beglückt und das Auge erfreut!«
»Deine Brüder sind Leichtfüße«, sagte die Königin, »und du, mein Liebling, hast keine Ursache, sie zu beneiden. Jene Grenzwächter kenne ich übrigens wohl; die Menschen haben so unrecht nicht, sie aufzustellen; es kam so mancher windige Geselle und tat, als ob er geradewegs aus meinem Reiche käme, und doch hatte er höchstens von einem Berge zu uns herübergeschaut.«
»Aber warum lassen sie dies mich, deine eigene Tochter, entgelten?« weinte Märchen. »Ach, wenn du wüßtest, wie sie es mit mir gemacht haben; sie schalten mich eine alte Jungfer und drohten, mich das nächste Mal gar nicht mehr hereinzulassen.«
»Wie? Meine Tochter nicht mehr einzulassen?« rief die Königin, und Zorn erhöhte die Röte ihrer Wangen. »Aber ich sehe schon, woher dies kommt: Die böse Muhme hat uns verleumdet!«
»Die Mode? Nicht möglich!« rief Märchen. »Sie tat ja sonst immer so freundlich.«
»Oh, ich kenne sie, die Falsche«, antwortete die Königin. »Aber versuche es ihr zum Trotze wieder, meine Tochter; wer Gutes tun will, darf nicht rasten!«
»Ach, Mutter, wenn sie mich dann ganz zurückweisen oder wenn sie mich verleumden, daß mich die Menschen nicht ansehen oder einsam und verachtet in einer Ecke stehenlassen?«
»Wenn die Alten, von der Mode betört, dich geringschätzen, so wende dich an die Kleinen; wahrlich, sie sind meine Lieblinge, ihnen sende ich meine lieblichsten Bilder durch deine Brüder, die Träume, ja ich bin schon oft selbst zu ihnen hinabgeschwebt, habe sie geherzt und geküßt und schöne Spiele mit ihnen gespielt. Sie kennen mich auch wohl; sie wissen zwar meinen Namen nicht, aber ich habe schon oft bemerkt, wie sie nachts zu meinen Sternen hinauflächeln und morgens, wenn meine glänzenden Lämmer am Himmel ziehen, vor Freuden die Hände zusammenschlagen. Auch wenn sie größer werden, lieben sie mich noch; ich helfe dann den lieblichen Mädchen bunte Kränze flechten, und die wilden Knaben werden stiller, wenn ich auf hoher Felsenspitze mich zu ihnen setze, aus der Nebelwelt der fernen blauen Berge hohe Burgen und glänzende Paläste auftauchen lasse und aus den rötlichen Wolken des Abends kühne Reiterscharen und wunderliche Wallfahrtszüge bilde.«
»O die guten Kinder!« rief Märchen bewegt aus. »Ja, es sei! Mit ihnen will ich es noch einmal versuchen.«
»Ja, du gute Tochter«, sprach die Königin, »gehe zu ihnen. Aber ich will dich auch ein wenig ordentlich ankleiden, daß du den Kleinen gefällst und die Großen dich nicht zurückstoßen – siehe, das Gewand eines Almanachs will ich dir geben.«
»Eines Almanachs, Mutter? Ach – ich schäme mich, so vor den Leuten zu prangen.«
Die Königin winkte, und die Dienerinnen brachten das zierliche Gewand eines Almanachs. Es war von glänzenden Farben, und schöne Figuren waren eingewoben. Die Zofen flochten dem schönen Mädchen das lange Haar; sie banden ihr goldene Sandalen unter die Füße und hingen ihr dann das Gewand um.
Das bescheidene Märchen wagte nicht aufzublicken; die Mutter aber betrachtete sie mit Wohlgefallen und schloß sie in ihre Arme. »Gehe hin«, sprach sie zu der Kleinen; »mein Segen sei mit dir. Und wenn sie dich verachten und höhnen, so kehre zurück zu mir; vielleicht daß spätere Geschlechter, getreuer der Natur, ihr Herz dir wieder zuwenden.«
Also sprach die Königin Phantasie. Märchen aber stieg herab auf die Erde. Mit pochendem Herzen nahte sie dem Ort, wo die klugen Wächter hausten; sie senkte das Köpfchen zur Erde, sie zog das schöne Gewand enger um sich her, und mit zagendem Schritte nahte sie dem Tor.
»Halt!« rief eine tiefe, rauhe Stimme. »Wache heraus! Da kommt ein neuer Almanach!«
Märchen zitterte, als sie dies hörte; viele ältliche Männer von finsterem Aussehen stürzten hervor; sie hatten spitzige Federn in der Faust und hielten sie dem Märchen entgegen. Einer aus der Schar schritt auf sie zu und packte sie mit rauher Hand am Kinn: »Nur auch den Kopf aufgerichtet, Herr Almanach«, schrie er, »daß man Ihm in den Augen ansieht, ob Er was Rechtes ist oder nicht!«
Errötend richtete Märchen das Köpfchen in die Höhe und schlug das dunkle Auge auf.
»Das Märchen!« riefen die Wächter und lachten aus vollem Hals. »Das Märchen! Haben wunder gemeint, was da käme! Wie kommst du nur in diesen Rock?«
»Die Mutter hat ihn mir angezogen«, antwortete Märchen.
»So? Sie will dich bei uns einschwärzen? Nichts da! Hebe dich weg! Mach, daß du fortkommst!« riefen die Wächter untereinander und erhoben die scharfen Federn.
»Aber ich will ja nur zu den Kindern«, bat Märchen; »dies könnt ihr mir ja doch erlauben?«
»Läuft nicht schon genug solches Gesindel im Land umher?« rief einer der Wächter. »Sie schwatzen nur unseren Kindern dummes Zeug vor.«
»Laßt uns sehen, was sie diesmal weiß«, sprach ein anderer.
»Nun ja«, riefen sie, »sag an, was du weißt; aber beeile dich, denn wir haben nicht viel Zeit für dich!«
Märchen streckte die Hand aus und beschrieb mit dem Zeigefinger viele Zeichen in die Luft. Da sah man bunte Gestalten vorüberziehen: Karawanen, schöne Rosse, geschmückte Reiter, viele Zelte im Sand der Wüste, Vögel und Schiffe auf stürmischen Meeren, stille Wälder und volkreiche Plätze und Straßen, Schlachten und friedliche Nomaden – sie alle schwebten in belebten Bildern, in buntem Gewimmel vorüber.
Märchen hatte in dem Eifer, mit welchem sie die Bilder aufsteigen ließ, nicht bemerkt, wie die Wächter des Tores nach und nach eingeschlafen waren. Eben wollte sie neue Zeichen beschreiben, als ein freundlicher Mann auf sie zutrat und ihre Hand ergriff.
»Sieh her, gutes Märchen«, sagte er, indem er auf die Schlafenden zeigte, »für diese sind deine bunten Sachen nichts; schlüpfe schnell durch das Tor, sie ahnen dann nicht, daß du im Lande bist, und du kannst friedlich und unbemerkt deine Straße ziehen. Ich will dich zu meinen Kindern führen; in meinem Hause geb' ich dir ein stilles, freundliches Plätzchen, dort kannst du wohnen und für dich leben. Wenn dann meine Söhne und Töchter gut gelernt haben, dürfen sie mit ihren Gespielen zu dir kommen und dir zuhören. Willst du so?«
»Oh, wie gerne folge ich dir zu deinen lieben Kleinen; wie will ich mich befleißigen, ihnen zuweilen ein heiteres Stündchen zu machen!«
Der gute Mann nickte ihr freundlich zu und half ihr über die Füße der schlafenden Wächter hinübersteigen. Lächelnd sah sich Märchen um, als sie hinüber war, und schlüpfte dann schnell in das Tor.