Ungekürztes Werk "Amerika" von Franz Kafka (Seite 41)

Therese brauchte einige Zeit, um sich der Umarmung des Oberportiers zu entwinden, und wollte sich gerade beim Oberkellner, der sich noch immer von dem sehr umständlichen Beß erzählen ließ, für Karl einsetzen, als die Oberköchin mit raschem Schritte eintrat.

“Gott sei Dank!” rief Therese und man hörte einen Augenblick lang im Zimmer nichts als diese lauten Worte. Gleich sprang der Oberkellner auf und schob Beß zur Seite.

“Sie kommen also selbst, Frau Oberköchin? Wegen dieser Kleinigkeit? Nach unserem Telephongespräch konnte ich es ja ahnen, aber geglaubt habe ich es eigentlich doch nicht. Und dabei wird die Sache Ihres Schützlings immerfort ärger. Ich fürchte, ich werde ihn tatsächlich nicht entlassen, aber dafür einsperren lassen müssen. Hören Sie selbst.” Und er winkte Beß herbei.

“Ich möchte zuerst ein paar Worte mit dem Roßmann reden”, sagte die Oberköchin und setzte sich auf einen Sessel, da sie der Oberkellner hierzu nötigte.

“Karl, bitte, komm näher”, sagte sie dann. Karl folgte oder wurde vielmehr vom Oberportier näher geschleppt. “Lassen Sie ihn doch los”, sagte die Oberköchin ärgerlich, “er ist doch kein Raubmörder!” Der Oberportier ließ ihn tatsächlich los, drückte aber vorher noch einmal so stark, daß ihm selbst vor Anstrengung die Tränen in die Augen traten.

“Karl”, sagte die Oberköchin, legte die Hände ruhig in den Schoß und sah Karl mit geneigtem Kopfe an – es war gar nicht wie ein Verhör –, “vor allem will ich dir sagen, daß ich noch vollständiges Vertrauen zu dir habe. Auch der Herr Oberkellner ist ein gerechter Mann, dafür bürge ich. Wir beide wollen dich im Grunde gerne hier behalten” – sie sah hierbei flüchtig zum Oberkellner hinüber, als wolle sie bitten, ihr nicht ins Wort zu fallen. Es geschah auch nicht. “Vergiß also, was man dir bis jetzt vielleicht hier gesagt hat. Vor allem, was dir vielleicht der Herr Oberportier gesagt hat, mußt du nicht besonders schwer nehmen. Er ist zwar ein aufgeregter Mann, was bei seinem Dienst kein Wunder ist, aber hat auch Frau und Kinder und weiß, daß man einen Jungen, der nur auf sich angewiesen ist, nicht unnötig plagen muß, sondern daß das schon die übrige Welt genügend besorgt.”

Es war ganz still im Zimmer. Der Oberportier sah, Erklärungen fordernd, auf den Oberkellner, dieser sah auf die Oberköchin und schüttelte den Kopf. Der Liftjunge Beß grinste recht sinnlos hinter dem Rücken des Oberkellners. Therese schluchzte vor Freude und Leid in sich hinein und hatte alle Mühe, es niemanden hören zu lassen.

Karl aber blickte, obwohl das nur als schlechtes Zeichen aufgefaßt werden konnte, nicht auf die Oberköchin, die gewiß nach seinem Blick verlangte, sondern vor sich auf den Fußboden. In seinem Arm zuckte der Schmerz nach allen Richtungen, das Hemd klebte an den Striemen fest, und er hätte eigentlich den Rock ausziehen und die Sache besehen sollen. Was die Oberköchin sagte, war natürlich sehr freundlich gemeint, aber unglücklicherweise schien es ihm, als müsse es gerade durch das Verhalten der Oberköchin zutage treten, daß er keine Freundlichkeit verdiene, daß er die Wohltaten der Oberköchin zwei Monate unverdient genossen habe, ja, daß er nichts anderes verdiene, als unter die Hände des Oberportiers zu kommen.

“Ich sage das”, fuhr die Oberköchin fort, “damit du jetzt unbeirrt antwortest, was du übrigens wahrscheinlich auch sonst getan hättest, wie ich dich zu kennen glaube.”

“Darf ich, bitte, inzwischen den Arzt holen, der Mann könnte nämlich inzwischen verbluten”, mischte sich plötzlich der Liftjunge Beß sehr höflich, aber sehr störend ein.

“Geh”, sagte der Oberkellner zu Beß, der gleich davonlief. Und dann zur Oberköchin: “Die Sache ist die. Der Oberportier hat den Jungen da nicht zum Spaß festgehalten. Unten, im Schlafsaal der Liftjungen, ist nämlich in einem Bett sorgfältig zugedeckt ein wildfremder, schwer betrunkener Mann aufgefunden worden. Man hat ihn natürlich geweckt und wollte ihn wegschaffen. Da hat dieser Mann aber einen großen Radau zu machen angefangen, immer wieder herumgeschrien, der Schlafsaal gehöre dem Karl Roßmann, dessen Gast er sei, der ihn hergebracht habe und der jeden bestrafen werde, der ihn anzurühren wagen würde. Im übrigen müsse er auch deshalb auf den Karl Roßmann warten, weil ihm dieser Geld versprochen habe und es nur holen gegangen sei. Achten Sie, bitte, darauf, Frau Oberköchin: Geld versprochen habe und es holen gegangen sei. Du kannst auch achtgeben, Roßmann”, sagte der Oberkellner nebenbei zu Karl, der sich gerade nach Therese umgedreht hatte, die wie gebannt den Oberkellner anstarrte und immer wieder entweder irgendwelche Haare aus der Stirn strich oder diese Handbewegung um ihrer selbst willen machte. “Aber vielleicht erinnere ich dich an irgendwelche Verpflichtungen. Der Mann unten hat nämlich weiterhin gesagt, daß ihr beide nach deiner Rückkunft irgendeiner Sängerin einen Nachtbesuch machen werdet, deren Namen allerdings niemand verstanden hat, da ihn der Mann immer nur unter Gesang aussprechen konnte.”

Hier unterbrach sich der Oberkellner, denn die sichtlich bleich gewordene Oberköchin erhob sich vom Sessel, den sie ein wenig zurückstieß.

“Ich verschone Sie mit dem Weiteren”, sagte der Oberkellner.

“Nein, bitte, nein”, sagte die Oberköchin und ergriff seine Hand, “erzählen Sie nur weiter, ich will alles hören, darum bin ich ja hier.”

Der Oberportier, der vortrat und sich zum Zeichen dessen, daß er von Anfang an alles durchschaut hatte, laut auf die Brust schlug, wurde vom Oberkellner mit den Worten: “Ja, Sie hatten ganz recht, Feodor!” gleichzeitig beruhigt und zurückgewiesen.

“Es ist nicht mehr viel zu erzählen”, sagte der Oberkellner. “Wie die Jungen eben schon sind, haben sie den Mann zuerst ausgelacht, haben dann mit ihm Streit bekommen, und er ist, da dort immer gute Boxer zur Verfügung stehen, einfach niedergeboxt worden; und ich habe gar nicht zu fragen gewagt, an welchen und an wie vielen Stellen er blutet, denn diese Jungen sind fürchterliche Boxer, und ein Betrunkener macht es ihnen natürlich leicht!”

“So”, sagte die Oberköchin, hielt den Sessel an der Lehne und sah auf den Platz, den sie eben verlassen hatte. “Also sprich doch, bitte, ein Wort, Roßmann!” sagte sie dann. Therese war von ihrem bisherigen Platz zur Oberköchin hinübergelaufen und hatte sich, was sie Karl sonst niemals hatte tun sehen, in die Oberköchin eingehängt. Der Oberkellner stand knapp hinter der Oberköchin und glättete langsam einen kleinen, bescheidenen Spitzenkragen der Oberköchin, der sich ein wenig umgeschlungen hatte. Der Oberportier neben Karl sagte: “Also wird's?”, wollte damit aber nur einen Stoß markieren, den er unterdessen Karl in den Rücken gab.

“Es ist wahr”, sagte Karl, infolge des Stoßes unsicherer, als er wollte, “daß ich den Mann in den Schlafsaal gebracht habe.”

“Mehr wollen wir nicht wissen”, sagte der Portier im Namen aller. Die Oberköchin wandte sich stumm zum Oberkellner und dann zu Therese.

“Ich konnte mir nicht anders helfen”, sagte Karl weiter. “Der Mann ist mein Kamerad von früher her, er kam, nachdem wir uns zwei Monate lang nicht gesehen hatten, hierher, um mir einen Besuch zu machen, war aber so betrunken, daß er nicht wieder allein fortgehen konnte.”

Der Oberkellner sagte neben der Oberköchin halblaut vor sich hin: “Er kam also zu Besuch und war nachher so betrunken, daß er nicht fortgehen konnte.” Die Oberköchin flüsterte über die Schulter dem Oberkellner etwas zu, der mit einem offenbar nicht zu dieser Sache gehörigen Lächeln Einwände zu machen schien. Therese – Karl sah nur zu ihr hin – drückte ihr Gesicht in völliger Hilflosigkeit an die Oberköchin und wollte nichts mehr sehen. Der einzige, der mit Karls Erklärung vollständig zufrieden war, war der Oberportier, welcher einigemal wiederholte: “Es ist ja ganz recht, seinem Saufbruder muß man helfen”, und diese Erklärung jedem der Anwesenden durch Blicke und Handbewegungen einzuprägen suchte.

“Schuld also bin ich”, sagte Karl und machte eine Pause, als warte er auf ein freundliches Wort seiner Richter, das ihm Mut zur weiteren Verteidigung geben könnte, aber es kam nicht, “schuld bin ich nur daran, daß ich den Mann – er heißt Robinson, ist ein Irländer – in den Schlafsaal gebracht habe. Alles andere, was er gesagt hat, hat er aus Betrunkenheit gesagt und ist nicht richtig.”

“Du hast ihm also kein Geld versprochen?” fragte der Oberkellner.

“Ja”, sagte Karl, und es tat ihm leid, daß er das vergessen hatte, er hatte sich aus Unüberlegtheit oder Zerstreutheit in allzu bestimmten Ausdrücken als schuldlos bezeichnet. “Geld habe ich ihm versprochen, weil er mich darum gebeten hat. Aber ich wollte es nicht holen, sondern ihm das Trinkgeld geben, das ich heute nacht verdient hatte.” Und er zog zum Beweise das Geld aus der Tasche und zeigte auf der flachen Hand die paar kleinen Münzen.

“Du verrennst dich immer mehr”, sagte der Oberkellner. “Wenn man dir glauben sollte, müßte man immer das, was du früher gesagt hast, vergessen. Zuerst hast du also den Mann – nicht einmal den Namen Robinson glaube ich dir, so hat, seit es Irland gibt, kein Irländer geheißen –, zuerst also hast du ihn nur in den Schlafsaal gebracht, wofür allein du übrigens schon im Schwung hinausfliegen könntest, Geld aber hast du ihm zuerst nicht versprochen, dann wieder, wenn man dich überraschend fragt, hast du ihm Geld versprochen. Aber wir haben hier kein Antwort- und Fragespiel, sondern wollen deine Rechtfertigung hören. Zuerst aber wolltest du das Geld nicht holen, sondern ihm dein heutiges Trinkgeld geben, dann aber zeigt sich, daß du dieses Geld noch bei dir hast, also offenbar doch noch anderes holen wolltest, wofür auch dein langes Ausbleiben spricht. Schließlich wäre es ja nichts Besonderes, wenn du für ihn aus deinem Koffer hättest Geld holen wollen; daß du es aber mit aller Kraft leugnest, das ist allerdings etwas Besonderes, ebenso wie du auch immerfort verschweigen willst, daß du den Mann erst hier im Hotel betrunken gemacht hast, woran ja nicht der geringste Zweifel ist, denn du selbst hast zugegeben, daß er allein gekommen ist, aber nicht allein weggehen konnte, und er selbst hat ja im Schlafsaal herumgeschrien, daß er dein Gast ist. Fraglich also bleiben jetzt nur noch zwei Dinge, die du, wenn du die Sache vereinfachen willst, selbst beantworten kannst, die man aber schließlich auch ohne deine Mithilfe wird feststellen können: Erstens, wie hast du dir den Zutritt zu den Vorratskammern verschafft, und zweitens, wie hast du verschenkbares Geld angesammelt?”

‚Es ist unmöglich, sich zu verteidigen, wenn nicht guter Wille da ist‘, sagte sich Karl und antwortete dem Oberkellner nicht mehr, so sehr Therese wahrscheinlich darunter litt. Er wußte, daß alles, was er sagen konnte, hinterher ganz anders aussehen würde, als es gemeint gewesen war, und daß es nur der Art der Beurteilung überlassen bleibe, Gutes oder Böses vorzufinden.

“Er antwortet nicht”, sagte die Oberköchin.

“Es ist das Vernünftigste, was er tun kann”, sagte der Oberkellner.

“Er wird sich schon noch etwas ausdenken”, sagte der Oberportier und strich mit der früher grausamen Hand behutsam seinen Bart.

“Sei still”, sagte die Oberköchin zu Therese, die an ihrer Seite zu schluchzen begann, “du siehst, er antwortet nicht, wie kann ich denn da etwas für ihn tun? Schließlich bin ich es, die vor dem Herrn Oberkellner unrecht behält. Sag doch, Therese, habe ich deiner Meinung nach etwas für ihn zu tun versäumt?” Wie konnte das Therese wissen, und was nützte es, daß sich die Oberköchin durch diese öffentlich an das kleine Mädchen gerichtete Frage und Bitte vor diesen beiden Herren vielleicht viel vergab?

“Frau Oberköchin”, sagte Karl, der sich noch einmal aufraffte, aber nur um Therese die Antwort zu ersparen, zu keinem anderen Zweck, “ich glaube nicht, daß ich Ihnen irgendwie Schande gemacht habe, und nach genauer Untersuchung müßte das auch jeder andere finden.”

“Jeder andere”, sagte der Oberportier und zeigte mit dem Finger auf den Oberkellner, “das ist eine Spitze gegen Sie, Herr Isbary.”

“Nun, Frau Oberköchin”, sagte dieser, “es ist halb sieben, hohe und höchste Zeit. Ich denke, Sie lassen mir am besten das Schlußwort in dieser schon allzu duldsam behandelten Sache.”

Der kleine Giacomo war hereingekommen, wollte zu Karl treten, ließ aber, durch die allgemein herrschende Stille erschreckt, davon ab und wartete.

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