Ungekürztes Werk "Amerika" von Franz Kafka (Seite 51)

“Und was wirst du machen, wenn ich hier Diener sein werde?” fragte Karl; er fühlte sich so frei, der erste Schrecken, den ihm die Mitteilungen Robinsons verursacht hatten, war vorüber. Delamarche hatte also keine schlimmeren Absichten mit ihm, als ihn zum Diener zu machen – hätte er schlimmere Absichten gehabt, dann hätte sie der plapperhafte Robinson gewiß verraten –, wenn es aber so stand, dann getraute sich Karl, noch heute nacht den Abschied durchzuführen. Man kann niemanden zwingen, einen Posten anzunehmen. Und während Karl früher Sorgen gehabt hatte, ob er nach seiner Entlassung aus dem Hotel bald genug, um vor Hunger geschützt zu sein, einen passenden und womöglich nicht unansehnlicheren Posten bekommen werde, schien ihm jetzt im Vergleich zu dem ihm hier zugedachten Posten, der ihm widerlich war, jeder andere Posten gut genug, und selbst die stellungslose Not hätte er diesem Posten vorgezogen. Robinson das aber begreiflich zu machen, versuchte er gar nicht, besonders da Robinson jetzt in jedem Urteil durch die Hoffnung völlig befangen war, von Karl entlastet zu werden.

“Ich werde also”, sagte Robinson und begleitete die Rede mit behaglichen Handbewegungen – die Ellbogen hatte er auf das Geländer aufgestützt –, “dir zunächst alles erklären und die Vorräte zeigen. Du bist gebildet und hast sicher auch eine schöne Schrift, du könntest also gleich ein Verzeichnis all der Sachen machen, die wir da haben. Das hat sich Brunelda schon längst gewünscht. Wenn morgen vormittag schönes Wetter ist, werden wir Brunelda bitten, daß sie sich auf den Balkon setzt, und inzwischen werden wir ruhig und ohne sie zu stören im Zimmer arbeiten können. Denn darauf, Roßmann, mußt du vor allem achtgeben. Nur nicht Brunelda stören. Sie hört alles, wahrscheinlich hat sie als Sängerin so empfindliche Ohren. Du rollst zum Beispiel das Faß mit Schnaps, das hinter dem Kasten steht, heraus, es macht Lärm, weil es schwer ist und dort überall verschiedene Sachen herumliegen, so daß man es nicht mit einem Male durchrollen kann. Brunelda liegt zum Beispiel ruhig auf dem Kanapee und fängt Fliegen, die sie überhaupt sehr belästigen. Du glaubst also, sie kümmert sich um dich nicht, und rollst dein Faß weiter. Sie liegt noch immer ruhig. Aber in einem Augenblick, wo du es gar nicht erwartest und wo du am wenigsten Lärm machst, setzt sie sich plötzlich aufrecht, schlägt mit beiden Händen auf das Kanapee, daß man sie vor Staub nicht sieht – seit wir hier sind, habe ich das Kanapee nicht ausgeklopft; ich kann ja nicht, sie liegt doch immerfort darauf –, und fängt schrecklich zu schreien an, wie ein Mann, und schreit so stundenlang. Das Singen haben ihr die Nachbarn verboten, das Schreien aber kann ihr niemand verbieten, sie muß schreien, übrigens geschieht es ja jetzt nur selten, ich und Delamarche sind sehr vorsichtig geworden. Es hat ihr ja auch sehr geschadet. Einmal ist sie ohnmächtig geworden, und ich habe – Delamarche war gerade weg – den Studenten von nebenan holen müssen, der hat sie aus einer großen Flasche mit Flüssigkeit bespritzt, es hat auch geholfen, aber diese Flüssigkeit hat einen unerträglichen Geruch gehabt, noch jetzt, wenn man die Nase zum Kanapee hält, riecht man es. Der Student ist sicher unser Feind, wie alle hier, du mußt dich auch vor allen in acht nehmen und dich mit keinem einlassen.”

“Du, Robinson”, sagte Karl, “das ist aber ein schwerer Dienst. Da hast du mich für einen schönen Posten empfohlen.”

“Mach dir keine Sorgen”, sagte Robinson und schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf, um alle möglichen Sorgen Karls abzuwehren. “Der Posten hat auch Vorteile, wie sie dir kein anderer Posten bieten kann. Du bist immerfort in der Nähe einer Dame wie Brunelda, du schläfst manchmal mit ihr im gleichen Zimmer, das bringt schon, wie du dir denken kannst, verschiedene Annehmlichkeiten mit sich. Du wirst reichlich bezahlt werden, Geld ist in Menge da, ich habe als Freund Delamarches nichts bekommen; nur wenn ich ausgegangen bin, hat mir Brunelda immer etwas mitgegeben, aber du wirst natürlich bezahlt werden wie ein anderer Diener. Du bist ja auch nichts anderes. Das Wichtigste für dich aber ist, daß ich dir den Posten sehr erleichtern werde. Zunächst werde ich natürlich nichts machen, damit ich mich erhole, aber wie ich nur ein wenig erholt bin, kannst du auf mich rechnen. Die eigentliche Bedienung Bruneldas behalte ich überhaupt für mich, also das Frisieren und Anziehen, soweit es nicht Delamarche besorgt. Du wirst dich nur um das Aufräumen des Zimmers, um Besorgungen und die schwereren häuslichen Arbeiten zu kümmern haben.”

“Nein, Robinson”, sagte Karl, “das alles verlockt mich nicht.”

“Mach keine Dummheiten, Roßmann”, sagte Robinson nahe an Karls Gesicht, “verscherze dir nicht diese schöne Gelegenheit. Wo bekommst du denn gleich einen Posten? Wer kennt dich? Wen kennst du? Wir, zwei Männer, die schon viel erlebt haben und große Erfahrungen besitzen, sind wochenlang herumgelaufen, ohne Arbeit zu bekommen. Es ist nicht leicht, es ist sogar verzweifelt schwer.”

Karl nickte und wunderte sich, wie vernünftig Robinson sprechen konnte. Für ihn hatten diese Ratschläge allerdings keine Geltung, er durfte hier nicht bleiben, in der großen Stadt würde sich wohl noch ein Plätzchen für ihn finden, die ganze Nacht über, das wußte er, waren alle Gasthäuser überfüllt, man brauchte Bedienung für die Gäste, darin hatte er nun schon Übung. Er würde sich schon rasch und unauffällig in irgendeinen Betrieb einfügen. Gerade im gegenüberliegenden Hause war unten ein kleines Gasthaus untergebracht, aus dem eine rauschende Musik hervordrang. Der Haupteingang war nur mit einem großen gelben Vorhang verdeckt, der manchmal, von einem Luftzug bewegt, mächtig in die Gasse hinausflatterte. Sonst war es in der Gasse freilich viel stiller geworden. Die meisten Balkone waren finster, nur in der Ferne fand sich noch hier und dort ein einzelnes Licht, aber kaum faßte man es für ein Weilchen ins Auge, erhoben sich dort die Leute, und während sie in die Wohnung zurückdrängten, griff ein Mann an die Glühlampe und drehte, als letzter auf dem Balkon zurückbleibend, nach einem kurzen Blick auf die Gasse das Licht aus.

‚Nun beginnt ja schon die Nacht‘, sagte sich Karl, ‚bleibe ich noch länger hier, gehöre ich schon zu ihnen.‘ Er drehte sich um, um den Vorhang vor der Wohnungstür wegzuziehen. “Was willst du?” sagte Robinson und stellte sich zwischen Karl und den Vorhang.

“Weg will ich”, sagte Karl. “Laß mich! Laß mich!”

“Du willst sie doch nicht stören”, rief Robinson, “was fällt dir denn nur ein!” Und er legte Karl die Arme um den Hals, hing sich mit seiner ganzen Last an ihn, umklammerte mit den Beinen Karls Beine und zog ihn so im Augenblick auf die Erde nieder. Aber Karl hatte unter den Liftjungen ein wenig raufen gelernt, und so stieß er Robinson die Faust unter das Kinn, aber schwach und voll Schonung. Der gab Karl noch rasch und ganz rücksichtslos mit dem Knie einen vollen Stoß in den Bauch, fing dann aber, beide Hände am Kinn, so laut zu heulen an, daß von dem benachbarten Balkon ein Mann unter wildem Händeklatschen “Ruhe!” befahl. Karl lag noch ein wenig still, um den Schmerz, den ihm der Stoß Robinsons verursacht hatte, zu verwinden. Er wandte nur das Gesicht zum Vorhang hin, der ruhig und schwer vor dem offenbar dunklen Zimmer hing. Es schien ja niemand mehr im Zimmer zu sein, vielleicht war Delamarche mit Brunelda ausgegangen, und Karl hatte schon völlige Freiheit. Robinson, der sich wirklich wie ein Wächterhund benahm, war ja endgültig abgeschüttelt.

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