Ungekürztes Werk "Das Schloß" von Franz Kafka (Seite 218)
der Arbeit gesehen. “Laß diese Bemerkungen!” sagte die Wirtin schnell. “Ich will von dir kein Wort mehr über die Kleider hören. Du hast dich nicht um meine Kleider zu kümmern. Das verbiete ich dir ein für allemal.” K. verbeugte sich nochmals und ging zur Tür. “Was soll denn das heißen”, rief die Wirtin hinter ihm her, “daß du in solchen Kleidern noch keine Wirtin bei der Arbeit gesehen hast? Was sollen solche sinnlosen Bemerkungen? Das ist doch völlig sinnlos. Was willst du damit sagen?” K. wandte sich um und bat die Wirtin, sich nicht aufzuregen. Natürlich sei die Bemerkung sinnlos. Er verstehe doch auch gar nichts von Kleidern. In seiner Lage erscheine ihm schon jedes ungeflickte und reine Kleid kostbar. Er sei nur erstaunt gewesen, die Frau Wirtin dort, im Gang, in der Nacht, unter allen den kaum angezogenen Männern in einem so schönen Abendkleid erscheinen zu sehen, nichts weiter. “Nun also”, sagte die Wirtin, “endlich scheinst du dich doch an deine gestrige Bemerkung zu erinnern. Und vervollständigst sie durch weiteren Unsinn. Daß du nichts von Kleidern verstehst, ist richtig. Dann aber unterlasse auch – darum will ich dich ernstlich gebeten haben –, darüber abzuurteilen, was kostbare Kleider sind oder unpassende Abendkleider und dergleichen ... Überhaupt” – hierbei war es, als überliefe sie ein Kälteschauer – “sollst du dir nichts an meinen Kleidern zu schaffen machen, hörst du?” Und als K. sich schweigend wieder umwenden wollte, fragte sie: “Woher hast du denn dein Wissen von den Kleidern?” K. zuckte die Achseln, er habe kein Wissen. “Du hast keines”, sagte die Wirtin. “Du sollst dir aber auch keines anmaßen. Komm hinüber in das Kontor, ich werde dir etwas zeigen, dann wirst du deine Keckheiten hoffentlich für immer unterlassen.” Sie ging voraus durch die Tür; Pepi sprang zu K., unter dem Vorwand, von K. die Zahlung zu bekommen, verständigten sie sich schnell, es war sehr leicht, da K. den Hofkannte, dessen Tor in die Seitenstraße führte, neben dem Tor war ein kleines Pförtchen, hinter dem wollte Pepi in einer Stunde etwa stehen und es auf dreimaliges Klopfen öffnen. Das Privatkontor lag gegenüber dem Ausschank, nur der Flur war zu durchqueren, die Wirtin stand schon im beleuchteten Kontor und sah ungeduldig K. entgegen. Es gab aber noch eine Störung. Gerstäcker hatte im Flur gewartet und wollte mit K. sprechen. Es war nicht leicht, ihn abzuschütteln, auch die Wirtin half mit und verwies Gerstäcker seine Zudringlichkeit. “Wohin denn? Wohin denn?” hörte man Gerstäcker noch rufen, als die Tür schon geschlossen war, und die Worte vermischten sich häßlich mit Seufzern und Husten.
Es war ein kleines, überheiztes Zimmer. An den Schmalwänden standen ein Stehpult und eine eiserne Kasse, an den Längswänden ein Kasten und eine Ottomane. Am meisten Raum nahm der Kasten in Anspruch; nicht nur, daß er die ganze Längswand ausfüllte, auch durch seine Tiefe engte er das Zimmer sehr ein, drei Schiebetüren waren nötig, ihn völlig zu öffnen. Die Wirtin zeigte auf die Ottomane, daß sich K. setzen möge, sie selbst setzte sich auf den Drehsessel beim Pult. “Hast du nicht einmal Schneiderei gelernt?” fragte die Wirtin. – “Nein, niemals”, sagte K. – “Was bist du denn eigentlich?” – “Landvermesser.” – “Was ist denn das?” K. erklärte es, die Erklärung machte sie gähnen. “Du sagst nicht die Wahrheit. Warum sagst du denn nicht die Wahrheit?” – “Auch du sagst sie nicht.” – “Ich? Du beginnst wohl wieder mit deinen Keckheiten? Und wenn ich sie nicht sagte – habe ich mich denn vor dir zu verantworten? Und worin sage ich denn nicht die Wahrheit?” – “Du bist nicht nur Wirtin, wie du vorgibst.” – “Sieh mal! Du bist voll Entdeckungen! Was bin ich denn noch? Deine Keckheiten nehmen nun aber schon wahrhaftig überhand.” – “Ich weiß nicht, was du sonst bist. Ich sehe nur, daß du eine Wirtin bist und außerdem Kleider trägst, die nicht für eine Wirtin passen und wie sie auch sonst meines Wissens niemand hier im Dorfe trägt.” – “Nun also kommen wir zu dem Eigentlichen. Du kannst es ja nicht verschweigen, vielleicht bist du gar nicht keck, du bist nur wie ein Kind, das irgendeine Dummheit weiß und durch nichts dazu gebracht werden könnte, sie zu verschweigen. Rede also! Was ist das Besondere dieser Kleider?” – “Du wirst böse sein, wenn ich es sage.” – “Nein, ich werde darüber lachen, es wird ja ein kindliches Geschwätz sein. Wie sind also die Kleider?” – “Du willst es wissen. Nun, sie sind aus gutem Material, recht kostbar, aber sie sind veraltet, überladen, oft überarbeitet, abgenützt und passen weder für deine Jahre noch deine Gestalt, noch deine Stellung. Sie sind mir aufgefallen, gleich als ich dich das erstemal sah, es war vor einer Woche etwa, hier, im Flur.” – “Da haben wir es also! Sie sind veraltet, überladen und was denn noch? Und woher willst du das alles wissen?” – “Das sehe ich, dazu braucht man keine Belehrung.” – “Das siehst du ohne weiteres. Du mußt nirgends nachfragen und weißt gleich, was die Mode verlangt. Da wirst du mir ja unentbehrlich werden, denn für schöne Kleider habe ich allerdings eine Schwäche. Und was wirst du dazu sagen, daß dieser Schrank voll von Kleidern ist?” Sie stieß die Schiebetüren beiseite, man sah ein Kleid gedrängt am andern, dicht in der ganzen Breite des Schrankes, es waren meist dunkle, graue, braune, schwarze Kleider, alle sorgfältig aufgehängt und ausgebreitet. “Das sind meine Kleider, alle veraltet, überladen, wie du meinst. Es sind aber nur die Kleider, für die ich oben in meinem Zimmer keinen Platz habe, dort habe ich noch zwei Schränke voll, zwei Schränke, jeder fast so groß wie dieser. Staunst du?”
“Nein, ich habe Ähnliches erwartet; ich sagte ja, daß du nicht nur Wirtin bist, du zielst auf etwas anderes ab.”
“Ich ziele nur darauf ab, mich schön zu kleiden, und du bist entweder ein Narr oder ein Kind oder ein sehr böser, gefährlicher Mensch. Geh, nun geh schon!”
K. war schon im Flur, und Gerstäcker hielt ihn wieder am Ärmel fest, als die Wirtin ihm nachrief: “Ich bekomme morgen ein neues Kleid, vielleicht lasse ich dich holen.”