Ungekürztes Werk "Der Prozeß" von Franz Kafka (Seite 108)

“ein sehr alter Klient.” “Wieviel Jahre vertritt er Sie denn schon?” fragte K. “Ich weiß nicht, wie Sie es meinen”, sagte der Kaufmann, “in geschäftlichen Rechtsangelegenheiten – ich habe ein Getreidegeschäft – vertritt mich der Advokat schon, seit ich das Geschäft übernommen habe, also etwa seit zwanzig Jahren, in meinem eigenen Prozeß, auf den Sie wahrscheinlich anspielen, vertritt er mich auch seit Beginn, es ist schon länger als fünf Jahre. Ja, weit über fünf Jahre”, fügte er dann hinzu und zog eine alte Brieftasche hervor, “hier habe ich alles aufgeschrieben; wenn Sie wollen, sage ich Ihnen die genauen Daten. Es ist schwer, alles zu behalten. Mein Prozeß dauert wahrscheinlich schon viel länger, er begann kurz nach dem Tod meiner Frau, und das ist schon länger als fünfeinhalb Jahre.” K. rückte näher zu ihm. “Der Advokat übernimmt also auch gewöhnliche Rechtssachen?” fragte er. Diese Verbindung der Gerichte und Rechtswissenschaften schien K. ungemein beruhigend. “Gewiß”, sagte der Kaufmann und flüsterte dann K. zu: “Man sagt sogar, daß er in diesen Rechtssachen tüchtiger ist als in den anderen.” Aber dann schien er das Gesagte zu bereuen, er legte K. eine Hand auf die Schulter und sagte: “Ich bitte Sie sehr, verraten Sie mich nicht.” K. klopfte ihm zur Beruhigung auf den Schenkel und sagte: “Nein, ich bin kein Verräter.” “Er ist nämlich rachsüchtig”, sagte der Kaufmann. “Gegen einen so treuen Klienten wird er gewiß nichts tun”, sagte K. “O doch”, sagte der Kaufmann, “wenn er aufgeregt ist, kennt er keine Unterschiede, übrigens bin ich ihm nicht eigentlich treu.” “Wieso denn nicht?” fragte K. “Soll ich es Ihnen anvertrauen?” fragte der Kaufmann zweifelnd. “Ich denke, Sie dürfen es”, sagte K. “Nun”, sagte der Kaufmann, “ich werde es Ihnen zum Teil anvertrauen, Sie müssen mir aber auch ein Geheimnis sagen, damit wir uns gegenüber dem Advokaten gegenseitig festhalten.” “Sie sind sehr vorsichtig”, sagte K., “aber ich werde Ihnen ein Geheimnis sagen, das Sie vollständig beruhigen wird. Worin besteht also Ihre Untreue gegenüber dem Advokaten?” “Ich habe”, sagte der Kaufmann zögernd und in einem Ton, als gestehe er etwas Unehrenhaftes ein, “ich habe außer ihm noch andere Advokaten.” “Das ist doch nichts so Schlimmes”, sagte K., ein wenig enttäuscht. “Hier ja”, sagte der Kaufmann, der noch seit seinem Geständnis schwer atmete, infolge K.s Bemerkung aber mehr Vertrauen faßte. “Es ist nicht erlaubt. Und am allerwenigsten ist es erlaubt, neben einem sogenannten Advokaten auch noch Winkeladvokaten zu nehmen. Und gerade das habe ich getan, ich habe außer ihm noch fünf Winkeladvokaten.” “Fünf!” rief K., erst die Zahl setzte ihn in Erstaunen, “fünf Advokaten außer diesem?” Der Kaufmann nickte: “Ich verhandle gerade noch mit einem sechsten.” “Aber wozu brauchen Sie denn soviel Advokaten?” fragte K. “Ich brauche alle”, sagte der Kaufmann. “Wollen Sie mir das nicht erklären?” fragte K. “Gern”, sagte der Kaufmann. “Vor allem will ich doch meinen Prozeß nicht verlieren, das ist doch selbstverständlich. Infolgedessen darf ich nichts, was mir nützen könnte, außer acht lassen; selbst wenn die Hoffnung auf Nutzen in einem bestimmten Falle nur

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