Ungekürztes Werk "Der Prozeß" von Franz Kafka (Seite 57)
mit der Weisung, niemand einzulassen. “Was habe ich gehört, Josef?” rief der Onkel, als sie allein waren, setzte sich auf den Tisch und stopfte unter sich, ohne hinzusehen, verschiedene Papiere, um besser zu sitzen. K. schwieg, er wußte, was kommen würde, aber, plötzlich von der anstrengenden Arbeit entspannt, wie er war, gab er sich zunächst einer angenehmen Mattigkeit hin und sah durch das Fenster auf die gegenüberliegende Straßenseite, von der von seinem Sitz aus nur ein kleiner, dreieckiger Ausschnitt zu sehen war, ein Stück leerer Häusermauer zwischen zwei Geschäftsauslagen. “Du schaust aus dem Fenster!” rief der Onkel mit erhobenen Armen, “um Himmels willen, Josef, antworte mir doch! Ist es wahr, kann es denn wahr sein?” “Lieber Onkel”, sagte K. und riß sich von seiner Zerstreutheit los, “ich weiß ja gar nicht, was du von mir willst.” “Josef”, sagte der Onkel warnend, “die Wahrheit hast du immer gesagt, soviel ich weiß. Soll ich deine letzten Worte als schlimmes Zeichen auffassen?” “Ich ahne ja, was du willst”, sagte K. folgsam, “du hast wahrscheinlich von meinem Prozeß gehört.” “So ist es”. antwortete der Onkel, langsam nickend, “ich habe von deinem Prozeß gehört.” “Von wem denn?” fragte K. “Erna hat es mir geschrieben”, sagte der Onkel, “sie hat ja keinen Verkehr mit dir, du kümmerst dich leider nicht viel um sie, trotzdem hat sie es erfahren. Heute habe ich den Brief bekommen und bin natürlich sofort hergefahren. Aus keinem anderen Grund, aber es scheint ein genügender Grund zu sein. Ich kann dir die Briefstelle, die dich betrifft, vorlesen.” Er zog den Brief aus der Brieftasche. “Hier ist es. Sie schreibt: ‚Josef habe ich schon lange nicht gesehen, vorige Woche war ich einmal in der Bank, aber Josef war so beschäftigt, daß ich nicht vorgelassen wurde; ich habe fast eine Stunde gewartet, mußte dann aber nach Hause, weil ich Klavierstunde hatte. Ich hätte gern mit ihm gesprochen, vielleicht wird sich nächstens eine Gelegenheit finden. Zu meinem Namenstag hat er mir eine große Schachtel Schokolade geschickt, es war sehr lieb und aufmerksam. Ich hatte vergessen, es Euch damals zu schreiben, erst jetzt, da Ihr mich fragt, erinnere ich mich daran. Schokolade, müßt Ihr wissen, verschwindet nämlich in der Pension sofort, kaum ist man zum Bewußtsein dessen gekommen, daß man mit Schokolade beschenkt worden ist, ist sie auch schon weg. Aber was Josef betrifft, wollte ich Euch noch etwas sagen. Wie erwähnt, wurde ich in der Bank nicht zu ihm vorgelassen, weil er gerade mit einem Herrn verhandelte. Nachdem ich eine Zeitlang ruhig gewartet hatte, fragte ich einen Diener, ob die Verhandlung noch lange dauern werde. Er sagte, das dürfte wohl sein, denn es handle sich wahrscheinlich um den Prozeß, der gegen den Herrn Prokuristen geführt werde. Ich fragte, was denn das für ein Prozeß sei, ob er sich nicht irre, er aber sagte, er irre sich nicht, es sei ein Prozeß, und zwar ein schwerer Prozeß, mehr aber wisse er nicht. Er selbst möchte dem Herrn Prokuristen gerne helfen, denn dieser sei ein guter und gerechter