Ungekürztes Werk "Der Prozeß" von Franz Kafka (Seite 91)

Bild im Arbeitszimmer des Advokaten auffallend ähnlich. Es handelte sich hier zwar um einen ganz anderen Richter, einen dicken Mann mit schwarzem, buschigem Vollbart, der seitlich weit die Wangen hinaufreichte, auch war jenes Bild ein Ölbild, dieses aber mit Pastellfarben schwach und undeutlich angesetzt. Aber alles übrige war ähnlich, denn auch hier wollte sich gerade der Richter von seinem Thronsessel, dessen Seitenlehnen er festhielt, drohend erheben. “Das ist ja ein Richter”, hatte K. gleich sagen wollen, hielt sich dann aber vorläufig noch zurück und näherte sich dem Bild, als wolle er es in den Einzelheiten studieren. Eine große Figur, die in der Mitte der Rückenlehne des Thronsessels stand, konnte er sich nicht erklären und fragte den Maler nach ihr. Sie müsse noch ein wenig ausgearbeitet werden, antwortete der Maler, holte von einem Tischchen einen Pastellstift und strichelte mit ihm ein wenig an den Rändern der Figur, ohne sie aber dadurch für K. deutlicher zu machen. “Es ist die Gerechtigkeit”, sagte der Maler schließlich. “Jetzt erkenne ich sie schon”, sagte K., “hier ist die Binde um die Augen und hier die Waage. Aber sind nicht an den Fersen Flügel und befindet sie sich nicht im Lauf?” “Ja”, sagte der Maler, “ich mußte es über Auftrag so malen, es ist eigentlich die Gerechtigkeit und die Siegesgöttin in einem.” “Das ist keine gute Verbindung”, sagte K. lächelnd, “die Gerechtigkeit muß ruhen, sonst schwankt die Waage, und es ist kein gerechtes Urteil möglich.” “Ich füge mich darin meinem Auftraggeber”, sagte der Maler. “Ja gewiß”, sagte K., der mit seiner Bemerkung niemanden hatte kränken wollen. “Sie haben die Figur so gemalt, wie sie auf dem Thronsessel wirklich steht.” “Nein”, sagte der Maler, “ich habe weder die Figur noch den Thronsessel gesehen, das alles ist Erfindung, aber es wurde mir angegeben, was ich zu malen habe.” “Wie?” fragte K., er tat absichtlich, als verstehe er den Maler nicht völlig, “es ist doch ein Richter, der auf dem Richterstuhl sitzt?” “Ja”, sagte der Maler, “aber er ist kein hoher Richter und ist niemals auf einem solchen Thronsessel gesessen.” “Und läßt sich doch in so feierlicher Haltung malen? Er sitzt ja da wie ein Gerichtspräsident.” “Ja, eitel sind die Herren”, sagte der Maler. “Aber sie haben die höhere Erlaubnis, sich so malen zu lassen. Jedem ist genau vorgeschrieben, wie er sich malen lassen darf. Nur kann man leider gerade nach diesem Bilde die Einzelheiten der Tracht und des Sitzes nicht beurteilen, die Pastellfarben sind für solche Darstellungen nicht geeignet.” “Ja”, sagte K., “es ist sonderbar, daß es in Pastellfarben gemalt ist.” “Der Richter wünschte es so”, sagte der Maler, “es ist für eine Dame bestimmt.” Der Anblick des Bildes schien ihm Lust zur Arbeit gemacht zu haben, er krempelte die Hemdärmel aufwärts, nahm einige Stifte in die Hand, und K. sah zu, wie unter den zitternden Spitzen der Stifte anschließend an den Kopf des Richters ein rötlicher Schatten sich bildete, der strahlenförmig gegen den Rand des Bildes verging. Allmählich umgab dieses Spiel des Schattens den Kopf wie ein

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