Ungekürztes Werk "In der Strafkolonie" von Franz Kafka (Seite 4)

nämlich der Kommandant zu geben; der neue Kommandant aber hat sich dieser Ehrenpflicht entzogen; daß er jedoch einen so hohen Besuch” – der Reisende suchte die Ehrung mit beiden Händen abzuwehren, aber der Offizier bestand auf dem Ausdruck – “einen so hohen Besuch nicht einmal von der Form unseres Urteils in Kenntnis setzt, ist wieder eine Neuerung, die –”, er hatte einen Fluch auf den Lippen, faßte sich aber und sagte nur: “Ich wurde nicht da von verständigt, mich trifft nicht die Schuld. Übrigens bin ich allerdings am besten befähigt, unsere Urteilsarten zu erklären, denn ich trage hier” – er schlug auf seine Brusttasche – “die betreffenden Handzeichnungen des früheren Kommandanten.”

“Handzeichnungen des Kommandanten selbst?” fragte der Reisende: “Hat er denn alles in sich vereinigt? War er Soldat, Richter, Konstrukteur, Chemiker, Zeichner?”

“Jawohl”, sagte der Offizier kopfnickend, mit starrem, nachdenklichem Blick. Dann sah er prüfend seine Hände an; sie schienen ihm nicht rein genug, um die Zeichnungen anzufassen; er ging daher zum Kübel und wusch sie nochmals. Dann zog er eine kleine Ledermappe hervor und sagte: “Unser Urteil klingt nicht streng. Dem Verurteilten wird das Gebot, das er übertreten hat, mit der Egge auf den Leib geschrieben. Diesem Verurteilten zum Beispiel” – der Offizier zeigte auf den Mann – “wird auf den Leib geschrieben werden: Ehre deinen Vorgesetzten!”

Der Reisende sah flüchtig auf den Mann hin; er hielt, als der Offizier auf ihn gezeigt hatte, den Kopf gesenkt und schien alle Kraft des Gehörs anzuspannen, um etwas zu erfahren. Aber die Bewegungen seiner wulstig aneinander gedrückten Lippen zeigten offenbar, daß er nichts verstehen konnte. Der Reisende hatte verschiedenes fragen wollen, fragte aber im Anblick des Mannes nur: “Kennt er sein Urteil?” “Nein”, sagte der Offizier und wollte gleich in seinen Erklärungen fortfahren, aber der Reisende unterbrach ihn: “Er kennt sein eigenes Urteil nicht?” “Nein”, sagte der Offizier wieder, stockte dann einen Augenblick, als verlange er vom Reisenden eine nähere Begründung seiner Frage, und sagte dann: “Es wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib.” Der Reisende wollte schon verstummen, da fühlte er, wie der Verurteilte seinen Blick auf ihn richtete; er schien zu fragen, ob er den geschilderten Vorgang billigen könne. Darum beugte sich der Reisende, der sich bereits zurückgelehnt hatte, wieder vor und fragte noch: “Aber daß er überhaupt verurteilt wurde, das weiß er doch?” “Auch nicht”, sagte der Offizier und lächelte den Reisenden an, als erwarte er nun von ihm noch einige sonderbare Eröffnungen. “Nein”, sagte der Reisende und strich sich über die Stirn hin, “dann weiß also der Mann auch jetzt noch nicht, wie seine Verteidigung aufgenommen wurde?” “Er hat keine Gelegenheit gehabt, sich zu verteidigen”, sagte der Offizier und sah abseits, als rede er zu sich selbst und wolle den Reisenden durch Erzählung dieser ihm selbstverständlichen Dinge nicht beschämen. “Er muß doch Gelegenheit gehabt haben, sich zu verteidigen”, sagte der Reisende und stand vom Sessel auf.

Der Offizier erkannte, daß er in Gefahr war, in der Erklärung des Apparates für lange Zeit aufgehalten zu werden;

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