Interpretation "Die Verwandlung" von Franz Kafka (Seite 2)
Seine Gedanken über die Misslichkeit seiner Situation als Handlungsreisender, die Intrigen in der Firma oder das Misstrauen des Chefs ignorieren die Tatsache der Verwandlung. Während der gesamten Erzählung, also bis zu seinem Tode, bleibt Gregors Bewusstsein unverändert. Er muss sich zwar an die neuen anatomischen Gegebenheiten gewöhnen, doch fühlt, denkt und redet er, wenn auch für Außenstehende unverständlich, nicht anders als vorher.
Und wie sah dieses Vorher aus? Die Mutter gibt in Gegenwart des Prokuristen eine kurze Auskunft: "Wie würde denn Gregor sonst einen Zug versäumen! Der Junge hat ja nichts im Kopf als das Geschäft. Ich ärgere mich schon fast, daß er abends niemals ausgeht; jetzt war er doch acht Tage in der Stadt, aber jeden Abend war er zu Hause. Da sitzt er bei uns am Tisch und liest still die Zeitung oder studiert Fahrpläne. Es ist schon eine Zerstreuung für ihn, wenn er sich mit Laubsägearbeiten beschäftigt."
Der Text selbst gibt keine Auskunft über die Figur Gregor Samsa vor der Verwandlung; wir erleben ihn nur in seinen Doppelzustand: mit dem Bewusstsein eines Handlungsreisenden im Körper eines Riesenkäfers. Könnte es denn sein, dass es immer so gewesen ist, dass das Erwachen an diesem Morgen nur ein Akt der Erkenntnis, nicht eine Mutation bedeutet? So geseheb kann der Text als eine klinische Beschreibung einer schweren Psychose (keine Schizophrenie, denn es fehlt jeglicher Hinweis auf eine Bewusstseinsspaltung) gelesen werden. Gregor Samsa erkennt seine Überflüssigkeit, die völlige Sinnlosigkeit seines Lebens. Schon rein äußerlich lässt sich dieses Fazit ziehen. Das Hauptmotiv für seine in hohem Grade ungeliebte Tätigkeit als Handelsreisender war die Sorge um die Familie, die vermeintlich ohne seine Anstrengungen nicht überlebensfähig gewesen wäre. Nach dem Eintritt seiner Arbeitsunfähigkeit erweist sich diese Sorge jedoch als völlig unbegründet; Vater, Mutter und Tochter zeigen sich durchaus in der Lage, für den eigenen Unterhalt zu sorgen. Der Schluss der Erzählung unterstreicht, wie sehr Gregors Tod allen Beteiligten die Augen dafür geöffnet hat: "Sie besprachen, bequem auf ihren Sitzen zurückgelehnt, die Aussichten für die Zukunft, und es fand sich, daß diese bei näherer Betrachtung durchaus nicht schlecht waren, denn aller drei Anstellungen waren, worüber sie einander eigentlich noch gar nicht ausgefragt hatten, überaus günstig und besonders für später vielversprechend."
Aber auch sprachlich sind die Parallelen zwischen Gregors Dasein als Mensch und seinem Dasein als Käfer unübersehbar. Seine zurückgezogene, nur dem Geschäft gewidmete Lebensweise wurde bereits von der Mutter dargestellt. Auch Gregor klagt über "das unregelmäßige, schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender menschlicher Verkehr."
Ist sein Insektenleben – bis hin zur Ernährungsfrage – nicht mit dem früheren geradezu völlig identisch? Selbst sein Verhalten hat sich nicht wesentlich geändert. Eine der dominierenden Eigenschaften des jungen Handelsreisenden war seine Rücksichtsnahme auf verschiedene Instanzen, vor allem gegenüber der Firma und der Familie. Sein fast krankhaftes Wohlverhalten vermied jeden Anlass zu Verdruss oder gar Sorge. Kaum zum Käfer mutiert, orientiert er sich nach derselben Prämisse: "Das größte Bedenken machte ihm die Rücksicht auf den lauten Krach, den es geben müßte." Später versteckt er sich unter dem Laken, um der Mutter seinen Anblick zu ersparen. Selbst im Sterben zieht er sich, schon fast gänzlich entkräftet, in sein Zimmer zurück, weil seine Anwesenheit im Wohnzimmer den anderen unangenehm ist.
Die vom subjektiven Erleben her frappierende Ähnlichkeit zwischen dem Davor und dem Danach der Verwandlung legt die These nahe, dass eine Verwandlung gar nicht stattgefunden hat. Gregor Samsa 'erwacht' eines Tages und erblickt die Wirklichkeit – seinen völlig sinnenthobenen beruflichen Alltag, das Fehlen menschlicher Wärme, die Armut seines Gefühlslebens und nicht zuletzt auch die Entfremdung vom eigenen Körper und dessen Bedürfnissen. Hier hat das Bild des mit den flimmernden Gliedern hilflos auf dem Rücken liegenden Käfers eine unmittelbare Plastizität. Gregor ignoriert die Schmerzen, wie er seinen Körper ignoriert und wohl stets ignoriert hat. In seiner eindringlichen Abstrusität gibt im übrigen die Szene, in der Gregor versucht, das Bild mit der Dame zu retten, einen überdeutlichen Hinweis auf den erotischen Notstand des Helden: "[...] er wußte wirklich nicht, was er zuerst retten sollte, da sah er an der im übrigen schon leeren Wand auffallend das Bild der in lauter Pelzwerk gekleideten Dame hängen, kroch eilends hinauf und preßte sich an das Glas, das ihn festhielt und seinem heißen Bauch wohltat."
Immer wieder ist versucht worden, Kafkas Erzählungen und Romane in einen biographischen Kontext zu stellen. Auch hier ist die Versuchung groß, die unübersehbare Ähnlichkeit der Figurenkonstellation bei Samsas und bei Kafkas zu interpretatorischen Zwecken zu nutzen. Cui bono? Der literarische Wert der Verwandlung liegt sicher nicht in erster Linie darin, dass sich ein junger Versicherungsangestellter seinen Alltagsfrust in einer etwas verzerrten Horrorgeschichte von der Seele schreibt, was in diesem Fall ja auch nicht gelungen wäre. Dass Kafka – wie im Grunde jeder Schriftsteller – Selbsterlebtes in sein Werk einfließen lässt, also auch die eigene Familie als Folie oder Gerüst nimmt für das, was er poetisch auszusagen hat, ist weiter nichts als eine Binsenweisheit, deren erkenntnisorientierter Nutzen sehr gering ist. Gelegentlich führt eine allzu biographie-orientierte Interpretation eher dazu, dass so krasse Fehlinterpretationen entstehen wie jene, die in dieser Erzählung das Minderwertigkeitsgefühl des Schriftstellers ausgedrückt sehen will, der sich als Ungeziefer, also als Parasit in Familie und Gesellschaft empfindet.