Interpretation "In der Strafkolonie" von Franz Kafka (Seite 2)

Dabei ist noch einmal festzuhalten, dass der Text gegenüber beiden Figuren 'neutral' bleibt. Löst die Teilnahmslosigkeit des Reisenden Befremden aus, so vermag die Überschwenglichkeit des Offiziers den Leser ebenso wenig auf seine Seite zu ziehen. Aber auch der Verurteilte und der Soldat, beide der einheimischen Bevölkerung ("armes, gedemütigtes Volk") der Tropeninsel zugehörig, sind kaum als Sympathieträger zu bezeichnen. Ihr Verhalten ist durch geringes bzw. völlig fehlendes Bewusstsein der Situation gekennzeichnet: Mit der größten Naivität interessiert sich der Verurteilte für die Maschine, die ihn zu Tode foltern soll; kaum hat er die Freiheit wiedererlangt, fängt er an, mit dem Soldaten (beide "scheinen sich [während der Folter!] miteinander befreundet zu haben«) wie ein Kind zu spielen; der Soldat seinerseits 'nascht' vom Brei des Verurteilten. Weder als Opfer noch als Täter beziehen sie Stellung zum Geschehen, sondern nehmen es unreflektiert als Selbstverständlichkeit hin.

Die Versuchung ist groß, die Erzählung als Gleichnis aufzufassen. Zum einen könnte die Insel in der literarischen Tradition von Atlantis, Utopia, Insel Felsenburg u. a. als Vor-Orwellsche Gegenwelt verstanden werden. Zum anderen böte sich eine Deutung an, die, von der christlichen Auffassung der 'Welt als Jammertal' ausgehend, zu einer Kafkaschen Steigerung der 'Welt als Strafkolonie' gelangen könnte.

In der Tat sind Anklänge an das christliche Märtyrertum (und letzlich auch an das Leiden Jesu) unübersehbar: Vor allem der verklärte Ausdruck der Gefolterten erinnert unmittelbar an Heiligenlegenden.

Doch auch ohne religiöse Konnotationen drängen sich transzendente Lesarten geradezu auf: So könnte die Maschine als eine Allegorie des Schicksals verstanden werden, das, dem einzelnen unbekannt und nicht einsehbar, sich mittels der erlittenen Wunden erst im Augenblick des Todes erschließt.

Es bleiben stets nur mehr oder weniger überzeugende Interpretationsansätze. Der Text verweigert sich einem einheitlichen Deutungsmuster, was besonders an der (wenig beachteten) epiloghaften Schlussepisode in der Stadt deutlich wird. Der Reisende verlässt die Insel und vereitelt die Flucht seiner Begleiter; so bleibt jeder seinem Bereich verhaftet, ebenso wie der Tod des Offiziers sich als vergeblicher Versuch herausstellt, die Grenzen zu überschreiten: "kein Zeichen der versprochenen Erlösung war zu entdecken."

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