Interpretation "Der Grüne Heinrich" von Gottfried Keller (Seite 2)

Die wichtigste, entscheidende Änderung jedoch erfährt der Schluss. In der ersten Fassung kehrt Heinrich nach Hause zurück, nur um zu erfahren, dass seine Mutter aus Gram über sein missratenes Leben gestorben ist, und folgt ihr in den Tod. Keller will damit zum Ausdruck bringen, "daß derjenige, dem es nicht gelingt, die Verhältnisse seiner Person und seiner Familie im Gleichgewicht zu erhalten, auch unbefähigt sei, im staatlichen Leben eine wirksame und ehrenvolle Stellung einzunehmen" – eine schonungslose Abrechnung des Autors mit seiner Figur, die viele autobiographische Züge trägt und in der Kunst wie im Leben scheitert.

Die zweite Fassung dagegen mildert die Drastik des Endes. Heinrich stirbt nicht mehr "aus Reue, weil er der Mutter das Geld durchgebracht und sie vor Kummer in den Tod getrieben" hat, sondern kommt rechtzeitig zu ihrer Sterbestunde und wird von Judith, die nun wieder aus Amerika heimkehrt, von aller Schuld freigesprochen; in ihr findet er eine treue Lebensgefährtin und übernimmt eine "wirksame" und "ehrenvolle" Stelle im Staat.

Das aber hat weitreichende Konsequenzen: alles Negative der ersten Fassung wird gemildert oder ganz weggelassen, wie z. B. das Duell und seine tödlichen Folgen. Anderes wird – wie die versöhnende Hulda-Episode – neu aufgenommen; selbst die von Heinrich nicht wahrgenommene Wendung zum Glücklichen auf dem gräflichen Schloss erhält in der Neufassung eine bereits ins Kitschige gehende nachträgliche Legitimierung: vom Grafen erfährt Heinrich, dass Dortchen Schönfund gräflicher Abstammung und seine Nichte sei.

Es sind demnach nicht nur stilistische und strukturell-kompositorische Änderungen, die zur 'verbesserten' Neufassung führen; die Überarbeitung trägt ebenso Kellers veränderter, arrivierter sozialer Stellung wie dem Publikumsgeschmack der Zeit Rechnung. Aus dem Bekenntnisbuch, mit dem sich Keller freischreibt von seiner vertanen Jugend, das in den 50er Jahren in Berlin gegen die Widerstände des Lebens und der Zeit, gegen die Widerstände seines eigenen Schicksals entstanden ist, wird ein Buch der poetischen Verklärung, wenn nicht der Resignation.

In der distanzierten Betrachtung der zweiten Fassung finden die Unmittelbarkeit, die Intensität und Spontaneität der Erstfassung keinen Platz mehr. Anstößiges wie die Badeszene der Judith fällt dem ebenso zum Opfer wie die zeitkritischen Ansichten und Polemiken gegen Schule, Staat und Kirche. Die politische und literarische, vom Vormärz bestimmte Aufbruchstimmung der Erstfassung weicht in der zweiten Fassung einem sich in die bestehenden Verhältnisse einordnenden Bekenntnis zum tätigen Leben. 1855 schreibt Keller seinem Verleger, dass der Grüne Heinrich ein Buch sei, "das ich zugleich erlebte, indem ich es schrieb." Vor allem dies ist verloren gegangen: die eigentümliche Kraft der Erstfassung, die, wie Clemens Heselhaus sagt, "den Leser zum Erleben dessen zwingt, was er liest."

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