Interpretation "Prosatexte" von Conrad Ferdinand Meyer (Seite 4)

Die Hochzeit des Mönchs
In der Hochzeit des Mönchs hat Meyer die Kunst der Rahmenerzählung zu ihrer kunstvollsten und vielschichtigsten Ausprägung gebracht. Kein Geringerer als Dante Alighieri tritt hier als Erzähler der Rahmenerzählung auf, der vor den Augen und Ohren einer abendlichen Erzählgesellschaft eine Geschichte entwirft, in der er die Figuren seiner Gegenwart zu Figuren seiner dargestellten Welt macht. Obwohl er behauptet, im Inneren seiner Zuhörer nicht lesen zu können, formt er die Gestalten seiner Erzählung so genau nach dem Vorbild der Charaktere seiner Zuhörer, dass ein komplexes, keineswegs auf Äußerlichkeiten beschränktes Abbildungsverhältnis zwischen der Welt der Rahmenerzählung und der der Binnenerzählung entsteht. Auch die Welt dieser Binnenerzählung ist eine "Welt des Zwanges und der Maske": mit kalter Berechnung zwingt der Vater Astorres auf dem Totenbett seinen Sohn, seine Mönchsgelübde zu brechen, um durch Heirat für den Fortbestand der Familie zu sorgen. Doch nachdem Astorre von den strengen Regeln des Klosterlebens befreit ist, wird er haltlos, seine Gefühle überwältigen ihn, und er liebt eine Frau, die er nicht lieben dürfte. Für ihn, den schwachen, zur Intrige und Bosheit nicht fähigen Menschen, gibt es nur die Alternative, völlig auf Liebe zu verzichten, oder aber derart von seinen Gefühlen überwältigt zu werden, dass er gegen die Regeln der Gesellschaft verstößt und sich seine Mitmenschen zu Todfeinden macht. Vergleicht man Die Hochzeit des Mönchs mit dem Schuß von der Kanzel, so wird, bei vielen Ähnlichkeiten im Charakter der Helden, doch ein deutlich pessimistischeres Weltbild im späteren Text erkennbar: sein "tiefes und wahres Gefühl" kann den harmlosen Mönch Astorre nicht mehr in jene "größere und einfachere" Welt versetzen, von der im Schuß von der Kanzel noch die Rede ist; eine solche Welt tut sich nur in seinem Inneren auf, doch seine Existenz bleibt in der "Welt des Zwanges und der Maske" gefangen. Der Mensch, der weder fähig ist, seine wahren und einfachen Gefühle zu leben, noch in der Lage ist, eine Maske aufzusetzen und ein doppeltes Spiel zu spielen, muß in dieser Welt untergehen.

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