Interpretation "Sonette an Orpheus (1923)" von Rainer Maria Rilke (Seite 3)

Das sechzehnte Sonett, an einen Hund gerichtet, stellt Orpheus als Herrn des Dichters vor: „Doch meines Herrn Hand will ich führen und sagen: Hier. Das ist Esau in seinem Fell.“ Bezug genommen wird hier auf die Episode um Jakob, der mit einer List den eigentlich seinem Bruder Esau gebührenden Erstgeburtssegen seines Vaters Isaak gewinnt (1. Mose 27). Das lyrische Ich führt nun die Hand des Orpheus, seines Herrn, zu dem Hund, damit dieser teilhabe an allem Menschlichen.

Das letzte Sonett schließlich beschreibt Orpheus’ gewaltsamen Tod durch die Mänaden und gleichzeitig die Überwindung der Vergänglichkeit, denn der orphische Gesang lebt weiter in Belebtem und Unbelebtem („Dort singst du noch jetzt.“)

Ähnlich wurde auch der Tod des Hl. Franz von Assisi am Schluss des Stunden-Buches beschrieben:

„Und als er starb, so leicht wie ohne Namen,
da war er ausgeteilt: sein Samen rann
in Bächen, in den Bäumen sang sein Samen
und sah ihn ruhig aus den Blumen an.
Er lag und sang."

Orpheus’ Geliebte Eurydike wird hingegen in diesem ersten Teil nicht explizit erwähnt. Sie verschwimmt in (der ebenfalls nicht namentlich genannten) Wera und in den meist tanzenden Mädchen, die im achten Sonett auch als „Klage“ erscheinen.

Die Sonette 13, 14 und 15 bilden eine weitere thematische Einheit, die mit verschiedenen Fruchtmotiven Verwandlungen und Erfahrungen darstellt und schließlich, nicht zuletzt in Anlehnung an Wera, tanzende Mädchen auffordert: „Tanzt die Orange.“ Als Gegenstück zu diesen Sonetten kann das siebzehnte Sonett des zweiten Teils gesehen werden, das die „Früchte der Tröstung“ sucht und herbeisehnt.

Ein in diesem mystisch-mythologischen Kontext eher ungewöhnliches Thema bildet die Kritik am eben aufgekommenen Industriezeitalter, die sich in zwei Sonetten (I 18 und II 10) zeigt. Wie eine Störung brechen die Maschinengeräusche in die orphische Welt ein: „Hörst du das Neue, Herr“, fragt das lyrische Ich und offenbart kurz darauf: „Sieh, die Maschine:/wie sie sich wälzt und räucht/und uns entstellt und schwächt.“

Auch die Maschine ist belebt, aktiv, „alles Erworbne bedroht“ sie, erdreistet sich „im Geist, statt im Gehorchen, zu sein.“ Doch trotz der Bedrohung ist auch Trost: „Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert/Stellen ist es noch Ursprung.“

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