Interpretation "Politische Publizistik" von Kurt Tucholsky

Mit seinen bissigen politischen Attacken, seinen satirischen Gesellschaftsporträts und Spottversen gehört Kurt Tucholsky zu den herausragenden Vertretern einer kritischen Publizistik in der Weimarer Republik. Klar erkannte er die Geburtsfehler dieser „Republik ohne Republikaner“, trat entschieden für einen Bruch mit der preußisch-monarchistischen Vergangenheit ein und forderte von seinen Landsleuten eine selbstbewusste demokratische Gesinnung. Vor allem die „Weltbühne“ nutzte Tucholsky als Forum für den von ihm geforderten kritischen Geist, das sich bewusst nicht von politischen Strömungen vereinnahmen ließ und pazifistischen und undogmatischen Ideen Raum bot. In seinem Grundsatzartikel Wir Negativen von 1919 setzte sich Tucholsky mit dem schon damals erhobenen Vorwurf auseinander, in seiner Kritik nicht konstruktiv zu sein und das eigene Nest zu beschmutzen. „Aber einen Augiasstall kann man nicht beschmutzen, und es ist widersinnig, sich auf das zerfallene Dach einer alten Scheune zu stellen und da oben die Nationalhymne ertönen zu lassen.“, war seine Replik darauf.

Tucholskys Engagement für die Republik resultiert in der Tat vor allem aus Ablehnung. Als Bedrohung für ein demokratisches Deutschland prangerte er in erster Linie die alten Eliten aus Justiz und Militär an, die aus ihrer Feindschaft gegen die Republik keinen Hehl machten und offen oder verdeckt deren Boykott betrieben. Fatal war dabei, dass weder die politischen Repräsentanten der Republik noch die Öffentlichkeit dieser Renitenz der – antidemokratisch geprägten – Institutionen mit einem umso entschiedeneren Engagement begegneten, sondern Realpolitik betrieben und auf politische Weichenstellung verzichteten. Die Republik begab sich damit fahrlässig ihrer Überlebenschancen. Diesen Zusammenhang formulierte Tucholsky in seinen politischen Beiträgen immer wieder knapp und prägnant und warnte vor den Konsequenzen: „Die Republik wird entweder anders sein als heute, oder sie wird nicht sein.“ (Die zufällige Republik, 1922)

In seiner berühmten Artikelserie Militaria, die unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel von Januar bis August 1919 in der Weltbühne erschien, rechnete Tucholsky schonungslos mit der Rolle der militärischen Führung und dem Verhalten der Offiziere im Ersten Weltkrieg ab. Im Einzelnen prangerte er darin die Verachtung für die einfachen Soldaten, die Bereicherung durch Unterschlagung von Lebensmitteln und durch Requirierung sowie die Volksverhetzung durch Kriegspropaganda an. Dass trotz dieser Erfahrungen die Verehrung für das Militär ungebrochen war, sah Tucholsky als deutliches Warnzeichen: „Wie ist das zu erklären? Wie kann ein Volk gedeutet werden, das nach allem, was geschehen ist, nach allem, was es erfahren und gelitten hat, den verlorenen Krieg als einen kleinen Betriebsunfall ansieht […]“ (›Unser Militär‹) Um die Republik lebensfähig und aus Untertanen selbstbewusste Staatsbürger zu machen, war es für Tucholsky notwendig, „den Deutschen, unsern Landsleuten, den Knechtsgeist auszutreiben“ (Offizier und Mann) und dafür zu sorgen, „dass ohne zerschlagene Fensterscheiben und ohne politische Morde in den Köpfen unsrer Volksgenossen eine geistige Revolution entsteht, wie sie bisher gefehlt hat“ (Zur Erinnerung an den ersten August 1914).

Auch die Justiz blieb ein Hauptziel von Tucholskys Attacken. Die Gerichtsbarkeit, die mit kaltschnäuziger Ignoranz über die Lebensumstände einfacher Leute hinwegging, moralische Kategorien statt strafrechtlicher Prinzipien anlegte und aus Standesdünkel (vor)verurteilte, erlebte er als Klassenjustiz (Deutsche Richter, 1927). Doch auch bei politisch motivierten Umtrieben und Gewalttaten zeigte sich Justitia (zumindest auf dem rechten Auge) blind. Tucholsky zeigte darauf mit dem Finger. Heftig griff er die lauen Reaktionen der Justiz auf die Fememorde und Anschläge an, die von Rechtsradikalen verübt wurden, auf Liebknecht und Luxemburg, Erzberger, Rathenau und Harden. Die Attentate wurden verharmlost, die Hintermänner blieben trotz vorliegenden Materials im Dunkeln und die Verbrecher kamen oft mit milden Strafen davon. Zum Urteil im Prozess Harden, in dem die Tat als Körperverletzung gewertet wurde, schrieb Tucholsky in der „Weltbühne“: „Der Urteilsspruch ist klar. Er bedeutet: »Weitermachen!« Er ist ein Anreiz für den nächsten, wie der ähnliche Spruch gegen den Mordbuben Hirschfeld, der Erzberger anfiel, ein solcher Anreiz gewesen ist. – Reißt dieser Justiz die falsche Binde herunter! Wir haben keine Justiz mehr.“ (Prozeß Harden, 1922) Als Theobald Tiger hatte er nach dem Anschlag auf Harden in der „Weltbühne“ gedichtet: „Ich kann nicht mehr – Sie werden das begreifen – bei jedem Attentat ein Trauerliedchen pfeifen – es sind zu viel. […]“ (Harden, 1922)