Interpretation "Jakob von Gunten" von Robert Walser (Seite 2)

Derart widersprüchlich, dass sich letztlich ein Handlungsbogen des Romans aus der entstehenden Spannung entwickelt, ist Jakobs Verhältnis zu Herrn Benjamenta. Zunächst wirkt der Institutsvorsteher riesenhaft unerreichbar und mürrisch. Als Jakob eine Quittung für das von ihm gezahlte Schulgeld verlangt, weist ihn Herr Benjamenta lediglich autoritär zurück: „Schlingel wie du erhalten keine Quittung.“ In die Privaträume Benjamentas, die 'inneren Gemächer', wird Jakob schon gar nicht vorgelassen. Von Herrn Benjamenta einmal ausdrücklich dazu aufgefordert, seine Meinung über das Institut zu äußern, hält Jakob sich zurück, weil jede Kritik an der Knabenschule gegen die Hauptregel der unbedingten Unterwürfigkeit verstoßen würde. Letztendlich ist Jakob aber doch aufmüpfiger, selbstständiger und wohl auch ein wenig anspruchsvoller als die anderen Schüler und gewinnt genau mit dieser Besonderheit das Herz des Vorstehers. Benjament gibt seine Zuneigung offen zu, und als Jakob die Vertrautheit erwidert, ist die Annäherung vollzogen und der Roman endet mit dem gemeinsamen Auszug der beiden in die Welt außerhalb des Instituts.

Eine Möglichkeit zur Deutung von Jakobs eigentümlichen Widersprüchlichkeiten bieten die regelmäßigen Träume der Figur. Von den sechs Träumen des Textes treten allein vier die Regeln der Knabenschule mit Füßen. In einem Traum möchte Jakob reich sein, im nächsten ein schlechter Mensch, dann wäre er gern mächtig, und schließlich will er ein fester, undurchdringlicher Soldat unter Napoleon sein. Jakob rebelliert unbewusst gegen die Wirklichkeit der Schule, in der er zu lebenslanger Armut und Unterwürfigkeit ausgebildet werden soll. Tagsüber gesteht Jakob sich diesen unterschwelligen Wunsch jedoch nicht ein, denn es gibt Regeln im Institut, denen er sich wohl oder übel anpassen muss. Und um das tun zu können, muss er wiederum seine inneren Bedürfnisse ausblenden. Jakob erliegt den gesellschaftlichen Zwängen der Schule und wird darüber zu einem widersprüchlichen Mensch.

Dementsprechend kann der Roman unter gesellschaftskritischen Aspekten gelesen werden und die Knabenschule als Spiegel einer sozialen Wirklichkeit, wie sie Robert Walser empfunden hat. Wie die Schüler im Institut Benjamenta sieht auch der Autor und mit ihm ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft sich vermutlich der Gewissheit ausgeliefert, ein Leben lang in untergeordneter sozialer Stellung ausharren und arbeiten zu müssen. Das soziale Gefüge in Walsers Knabenschule ist in zwei Klassen zerteilt und ähnelt den Verhältnissen in den Fabriken und Behörden des wilhelminischen Deutschland: während die adlige und reiche Oberschicht sich den Freuden des Lebens hingibt und weiterhin Geld verdient, fügt sich die Unterschicht folgsam in ihre Untertanenrolle. Jakobs Schulkameraden sind als typisierte Figuren der sozialen Unterschicht angelegt, die niemals in die Oberschicht überwechseln werden: der dümmliche Dorfjunge Hans, der übereifrige Kraus. Besonders perfide ist allerdings, dass in Walsers Welt der Mensch durch die ihm aufgezwungene Unterwürfigkeit die Versehrtheit seiner Persönlichkeit einbüßt. Er wird wie Jakob zu einem widersprüchlichen Charakter.

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