Interpretation "Die Ermittlung" von Peter Weiss (Seite 2)

Dieser Gestus der Distanzierung zeigt sich auch in Weiss` Methode, die Geschichte zu entindividualisieren. Die Opfer - mit der Ausnahme Lili Toflers - werden nicht beim Namen genannt, sie bleiben anonym. Die Täter werden zwar als konkret identifizierbare Personen benannt, im Personenverzeichnis sind sie jedoch nur als Nummern aufgeführt.

Weiss' Ziel ist es nicht, ein einzelnes Geschehnis oder einzelne Schicksale zu beschreiben, so furchtbar sie auch gewesen sein mögen. Ihm geht es darum, das Prinzip, die Struktur, die Logik hinter dem Konzentrationslager sichtbar zu machen (heute würden wir sagen: den Herrschaftsdiskurs zu dekonstruieren). So ist sein Text eine Kritik an totalitären (faschistischen) Einrichtungen und deren Vernichtungspolitik. Dabei bleibt der Autor aber nicht stehen. Immer wieder zieht er im Text explizite Verbindungen zwischen den kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen und dem Faschismus, wenn er etwa die „segensreiche Freundschaft zwischen der Lagerverwaltung und der Industrie" anspricht. Und da diese kapitalistischen Strukturen auch die Nachkriegsgesellschaft dominierten, wird „Die Ermittlung" zu einer Kritik der Gegenwart, in der - nach Weiss - die implizite Möglichkeit eines neuen Faschismus qua Struktur immer noch enthalten ist. Wenn aber gegen die Vergangenheit und die Gegenwart gleichermaßen ermittelt werden muss, so die logische, jedoch nicht ausgesprochene Schlussfolgerung des Dramas, kann die Lösung nur in einer radikalen politischen Systemveränderung liegen.

Dr. Gregor Ohlerich

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