Interpretation "Trotzki im Exil" von Peter Weiss (Seite 2)

Im Text geht es um den Streit zwischen Lenin und Trotzki über die richtigen Strategien des revolutionären Kampfes. Beide sind sich jedoch in der entscheidenden Prämisse einig, in der ideologischen Grundannahme einer waltenden historischen Notwendigkeit und dem daraus resultierenden mechanistischen Geschichtsverständnis. Zwar sehen beide die Gefahr, die darin liegt und die durch Stalin personifiziert wird. Sie wollen aber von ihrer Vorstellung nicht ablassen, auch in dem Moment nicht, wo sie sich gegen sie kehrt. Weder Lenin noch Trotzki können einsehen, dass es ihr Konzept von Geschichte und ihr Glaube an die Machbarkeit und Lenkbarkeit einer bestimmten Weltordnung ist, das sich gegen sie kehrt und dem sie schließlich zum Opfer fallen.

Peter Weiss zeigt aber auch ein alternatives Denken auf, das auf einer Korrektur der genannten ideologischen Prämisse beruht. Hierfür lässt er die Figur des Surrealisten André Breton auftreten. Breton argumentiert anhand der Moskauer Prozesse gegen Kommunisten, dass ein „Zeitalter der wahnsinnigen Einstellungen und Fälschungen“ angebrochen sei. Das Pflichtgefühl der Angeklagten, „sich dem Mehrheitsbeschluß zu unterwerfen“ bezeichnet er als „religiösen Mystizismus“, der „den Marxismus zu einer Grabkammer macht“. Trotzki will davon jedoch nichts hören. Den Bericht Bretons, der seinen eigenen Erfahrungen entspricht, ignoriert er zugunsten eines unbedingten Glaubens an sein geschlossenes Weltbild, an die „nüchterne Voraussicht des dialektischen Materialismus“. Trotzkis Entschluss, die Vernunft vom einzelnen Individuum auf die Gesetzmäßigkeit der Geschichte zu übertragen, führt konsequent zu seiner eigenen „Hinrichtung“.

Das Stück „Trotzki im Exil“ enthält zwei wichtige Aussagen. Zum einen ist es die Kritik am Geschichtsbild des real existierenden Sozialismus der siebziger Jahre, das auf Verfälschung und Verdrängung missliebiger Personen und Denktraditionen beruhte. Zum anderen ist der Text eine wichtige Auseinandersetzung des Autor mit seiner eigenen Biographie. Nachdem er sich zu Beginn der sechziger Jahre entschieden hatte, fest auf der Seite des Sozialismus zu stehen, formuliert er knapp zehn Jahre später Zweifel an dieser Position, ohne jedoch mit ihr brechen zu wollen. Dennoch: Weiss merkt, dass der scheinbar so deutliche „Fluchtpunkt“ in seinem Leben einer Korrektur bedarf.

Dr. Gregor Ohlerich

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