Literaturepoche Von der Jahrhundertwende bis 1933 (Seite 2)

Als emblematischstes Beispiel hierfür kann die Lyrik August Stramms (1874–1915) angesehen werden (DU, 1915; Tropfblut, posthum 1919), dessen Gedichte – oft nur aus Reihungen von Ein-Wort-Zeilen bestehend – den wohl radikalsten Bruch mit der Lyrik des 19. Jahrhunderts bedeuten. Noch schockierender wirkte der erste Gedichtzyklus von Gottfried Benn (1886–1956): In Morgue (1912) wurden mit krudester Genauigkeit beobachtete Szenen aus Leichenund Krankenhaus zum lyrischen Gegenstand – ein unerhörtes Novum, mit dem der konventionellen Poesie-Auffassung ebenso wie dem zunehmend mechanistischen Menschenund Weltbild Urfehde angesagt wurde. Blieb seine Lyrik in der Folgezeit – u.a. die Bände Fleisch (1917) Schutt (1924) Spaltung (1925) – zwar von der Thematik her nicht so radikal, so zeichnete sie sich vor allem durch einen entschiedenen Angriff auf rationalistische Denk- und Handelsmuster aus; Gedichte wie »Wir gerieten in ein Mohnfeld« gehören zu den großartigsten Wortgebilden in deutscher Sprache. Benn, der vorübergehend den Nationalsozialismus begrüßte und dann bis 1948 verstummte, ist auch durch seine späteren Gedichte und sein essayistisches Werk eine entscheidende Gestalt der deutschsprachigen Lyrik unseres Jahrhunderts geblieben.

Der gleiche Rang ist dem schmalen Œuvre (Gedichte, 1913; Sebastian im Traum, 1914) Georg Trakls (1887–1914) zuzuweisen. Seine mit Bildern des Herbstes, des Untergangs, des Verfalls durchsetzten Gedichte scheinen gar nicht zum ‘lauten’ Gestus der Expressionisten zu passen, und doch spiegelt das Traumhafte, Verstörende seiner manchmal visionartigen Texte einen wesentlichen Aspekt dieser Zeit wider.

Auch Georg Heyms (1887–1912) Lyrik bildet mit ihrer formalen Strenge eher eine Ausnahme innerhalb der sonst eher als ‘entfesselt’ zu bezeichnenden poetischen Produktion jener Jahre; vom Inhalt her können seine beiden Bände Der ewige Tag (1911) und Umbra vitae (1912) hingegen als prototypisch für die messianisch-apokalyptische Emphase des Expressionismus angesehen werden.

Eher auf die eigene Generation beschränkt war die Wirkung anderer Lyriker wie Jakob van Hoddis (1887–1942) – der mit seinem quasi programmatischen Gedicht »Weltende« allerdings in sämtliche Literaturgeschichten eingegangen ist, Paul Zech (1881–1946), der vor allem als Übersetzer von Villon und Rimbaud bekannt wurde, Alfred Lichtenstein (1889–1914) oder Albert Ehrenstein (1886–1950). Else Lasker-Schülers (1869–1945) lyrisches Werk – u.a. Styx (1902), Der siebente Tag (1905), Hebräische Balladen (1913) – mit seinem eigentümlichen zwischen Dunkelheit, Ekstase und Wehmut oszilierenden Ton hat hingegen über den zeitgebundenen Kontext hinaus Gültigkeit behalten.

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