Literaturepoche Sturm und Drang (Seite 2)

Als »Geniesucht« bezeichnete selbst der Mitstreiter und spätere Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß die Maßlosigkeit der damaligen Avantgarde. Nicht nur der ausgeprägte Gruppencharakter (Kreise um Goethe und Herder in Straßburg und um Goethe in Frankfurt und Darmstadt) machte die Stürmer und Dränger zu einer solchen: vor allem die Zertrümmerung der literarischen Formen als ästhetische Entsprechung zum geistigen Gehalt wies sie als radikale Neuerer aus. Vornehmlich die aus dem französischen Klassizismus verhaßten pseudoaristotelischen drei Einheiten der Zeit, des Ortes und der Handlung im Drama wurden durch dauernde Schauplatzwechsel, Massenszenen und Nebenepisoden aufgebrochen und malträtiert; die Sprache bestand aus gestammelten Satzfetzen und unzähligen Kraftwörtern; nicht mehr Furcht und Mitleid, sondern Wut und Schrecken waren die erstrebte Wirkung.

Der lang verpönte Shakespeare wurde – pikanterweise in Wielands Übersetzung rezipiert – zum unumstrittenen Gott erhoben, wovon Goethes Rede zum Schäkespears Tag (1771) und Herders Aufsatz in seiner Sammlung Von deutscher Art und Kunst (1773) zeugen. Originalgenie war das Schlagwort: der Künstler schuf die Welt nicht mehr nach, sondern stand als Neuschöpfer außerhalb des überkommenen ethisch-ästhetischen Gefüges – diese Unabhängigkeit konnte sogar, wie in Heinses Ardinghello, als moralische Ambivalenz zum Ausdruck kommen.

Dieser Künstlerroman war neben den Leiden des jungen Werthers (1774) eines der wenigen erzählenden Werke dieser Epoche, die – abgesehen von den sehr wichtigen theoretisch-programmatischen Texten – im Drama ihren naturgemäßen Ausdruck fand. Wie anders konnten die Zerrissenheit und die Spannung, die den Sturm und Drang charakterisieren, künstlerische Gestalt gewinnen? Es war eine Rebellion – eine Revolte, die auf das Literarische beschränkt blieb, weil in Deutschland, im Gegensatz zu Frankreich, das Bewußtsein für die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Umbruchs breitere Bevölkerungsschichten noch nicht erfaßt hatte. Aber es war keine elitäre Spielerei einiger Intellektueller, sondern ein Reflex der sich anbahnenden großen Revolution, die einige Jahre später mit dem Sturm auf die Bastille die Überwindung des Feudalismus durch das Bürgertum einläutete.

Wie sehr auch eine politische Wirkung versagt blieb: das soziale Engagement der Stürmer und Dränger, die in ihren Werken Gerechtigkeit und Freiheit für das Individuum und die Gesellschaft einklagten und die Unterdrückung, die Willkür und das Intrigantentum an den Höfen schonungslos denunzierten, dieses Engagement war echt. Hier standen die jungen Literaten in einer Linie mit mit dem bürgerlichen Trauerspiel Lessings, dessen Emilia Galotti unumstritten war.

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