ALI UND MARTINA

Ali und Martina

Orhan Aras

Ich wanderte am Ufer des Rheins, der mitten durch Köln verläuft

und sich 1320 km in die Weite streckt. Der Nil Europas und Köln

mit seinem weltberühmten Kölnisch Wasser. Und noch immer

kann man die Zeugnisse der alten Römer erkennen, die Kolonien

von Agripis bis Preußen hatten.

Manchmal blickte ich flüchtig in das dreckige Wasser des Rheins.

Ich denke über meine Fremdheit, das Alleinsein, und die

Trostlosigkeit nach. Dann als plötzlich die Glocken des Kölner

Doms in ihrer ganzen Wucht läuteten und ringsherum mich die

Leute einholten, wurde mir wieder bewusst wo ich war und ich

trat den Heimweg an. Bestimmt hatte meine Mutter wieder eine

ihrer köstlichen türkischen Gerichte zubereitet und wartete schon

auf mich. In der Eigelstrasse waren inzwischen noch mehr

Menschen. Die Strasse wurde zunehmend von Türken bewohnt.

Istanbul Juwelier Arabella, Anadolu Lebensmittelgeschäft,

Mevlana Lokal. Meine Augen blieben an der Statur eines 700 Jahre

alten Römersoldaten haften, die am Eigelsteintor stand. Vielleicht

verlangt das Leben selbst, ständig ein Kämpfer und Fremder zu

sein.

Ich wollte kurzzeitig im Sportclub vorbeischauen, an dem ich

vorbeikam, aber dann kam meine Mutter mir in den Sinn und ich

ging meinen Weg weiter. An der Ecke der Kommödienstrasse hörte

ich plötzlich ein Wimmern. Als ich genauer hinschaute, sah ich

dass dort ein Mensch lag, wo man nicht mehr erkennen konnte,

ob es sich um einen alten oder jungen Menschen handelte. Ich

näherte mich ihm. Es war ein blondes junges Mädchen, das völlig

verdreckt war. Schnell nahm ich sie zur Seite. Sie kam etwas zu

sich. Auch öffnete sie kurz ihre Augen und blickte mir ins Gesicht,

sie versuchte mir irgendwas zu sagen. Aber ich konnte nichts

verstehen. Es war eigentlich auch sinnlos, weil die Hälfte was sie

von sich gab mehr ein Wimmern war. Während sie versuchte mir

brockenweise etwas mitzuteilen, wovon ich sowieso nichts

verstand und was nur noch mehr Fragen in meinem Kopf stellte,

versuchte ich ihr Gesicht mit meinen Handflächen zu reinigen.

Während sie redete, lief ihr der Speichel aus dem Mundrand. Ihre

Lippen waren blass und ihre weißen Zähne blinkten aus ihrem

verschmutzen Gesicht hervor. Sie war überall verschmutzt, die

Augen, das Gesicht waren von Dreck bedeckt. Ihre blauen Augen

schimmerten dreckig.

Ich nahm ihren Kopf auf meine Knie. Sie war vielleicht Anfang

zwanzig. Ihre Haare waren voller Schlamm. Mir tat es in der Seele

weh, sie so zu sehen. Polizei, Krankenhaus, Notarzt… Nichts kam

mir in den Sinn. Ich nahm sie in meine Arme und brachte sie zu

einer nahe gelegenen Bushaltestelle. Als der erfrischende Wind ihr

ins Gesicht blies, kam sie mehr und mehr zu sich. Sie nahm meine

Hand und lies sie nicht mehr los, so als ob sie mich schon

jahrelang kennen würde. Ich zog meine Jacke aus und wickelte sie

darin ein. Wieder nahm ich ihren Kopf auf meine Knie und redete

tröstend auf sie ein. Als sie sich mehr und mehr beruhigte, konnte

ich endlich verstehen, was sie mir sagen wollte. „Bring mich zu

meiner Mutter“, sagte sie. Immer wenn sie das Wort „Mutter“

sagte, hatte ich das Gefühl, als ob ich von einer Kugel getroffen

wurde. Ich war tief betroffen von ihrem Aussehen und ihrer

kindlichen Bitte nach ihrer Mutter. Ich musste auch weinen. Meine

Tränen fielen ihr auf Gesicht. Sie drückte meine Hand auf ihr

Gesicht, als ob sie versuchen würde ihre innerliche Angst, ihr

Feuer auf mich zu übertragen. Noch zwei weitere große Tränen

von mir fielen auf ihr Gesicht. Ich vergaß, dass sie eine andere

Sprache sprach, dass sie aus einem anderen Land war, eine

andere Sprache hatte, mit der sie die liebevollen Wörter sagte. Ich

sah sie nun vielmehr als eine von uns. Als ob sie meine

Muttersprache könnte. Ich hauchte ihr auf türkisch tröstende

Worte zu.

„Einverstanden, versprochen, ich werde dich zu deiner Mutter

bringen“, sage ich zu ihr. Sie zwinkerte mit ihren Augen, als ob sie

mich verstanden hätte. Ich kann es mir nicht vorstellen, dass es

eine bessere Verständigung geben kann als mit den Augen, die

soviel Reinheit und Warmherzigkeit ausstrahlen können. Nach ein

paar Minuten, wo sie sich beruhigt hatte, begann sie erneut zu

weinen. Ständig sagte sie: “Ich will sterben“! Ich hatte ihre Hand

fest umklammert.

Du bist noch sehr jung, fast noch ein Kind, sagte ich zu ihr. So wie

meine Worte aus dem Mund flossen, flossen auch meine Tränen.

Sie hörte nicht auf mich, sie weinte nur. Ich nahm sie auf den

Rücken. Ich wollte sie mit zu uns nach Hause nehmen. Menschen

die an uns vorbeigingen, schauten uns neugierig an. Auf dem Weg

nach Hause beruhigte sie sich etwas. Eine zeitlang sagte sie

nichts. Dann fragte sie mich in einer kindlichen Unschuld: “Bin ich

wirklich noch ein Kind?“ „Ja, du bist noch ein Kind, genauso wie

ich noch eins bin. Du, ich, die hier draußen sind, jeder von uns ist

noch ein Kind.

Ein jeder von uns ist irgendwo noch stecken geblieben. Bei einem

Kummer, bei einem Streit, bei einem Unglück, bei einer Hoffnung,

irgendwo in einer dunkeln Ecke warten wir darauf erwachsen zu

werden. Wir denken uns, dass es einen Tag geben wird, wo wir

endlich erwachsen sein können. Wir laufen, wir bleiben an etwas

hängen und fallen, wir streiten uns und versöhnen uns wieder.

Und wir reden uns ein, dass wir erwachsen sein werden. Aber

irgendwie schaffen wir es nicht. Unsere Kindheit endet viel zu

schnell und zieht an uns vorbei. Und später, später sterben wir

noch als Kinder. Ja als Kind, als Kind mit einem kleinen Herzen

sterben wir!“ Sie hatte ihr Gesicht auf meine Schultern gelegt und

hörte mir zu. Und sie weinte. Ihre Tränen liefen mir den Rücken

hinunter. Als ich endlich zu Hause ankam, war ich ziemlich

erschöpft. Meine Mutter öffnete die Tür. Sie war verwundert, als

sie ein deutsches Mädchen auf meinem Rücken sah. Aber als sie

ihre schreckliche Lage sah, half sie mir, ohne mir viele Fragen zu

stellen. Wir brachten sie in mein Zimmer. Ich verließ mein Zimmer,

so dass meine Mutter sie säubern und waschen konnte.

Schließlich brachte meine Mutter sie zu Bett. Als mein Vater spät

in der Nacht heimkam, schilderten wir ihm die Situation. Erst war

er besorgt: “Informieren wir lieber die Polizei“, meinte er. Aber wir

meinten, dass wir lieber erst einmal den nächsten Tag abwarten

sollten. Schließlich war er einverstanden. Als sich das Mädchen

ein bisschen erholt hatte, ging ich zu ihr. In den sauberen weißen

Laken sah sie noch kindlicher aus. Als sie mich sah, lächelte sie

und bedankte sich bei mir. Sie fasste Vertrauen in uns, je mehr

sich meine Mutter um sie kümmerte. Sie pflegte und hegte sie mit

ihrem freundlichen Gesicht. Nun begann sie sich zu benehmen, als

wäre sie eine von uns. Innerhalb von zwei Tagen erholte sie sich

wieder und konnte aufstehen. Sie wollte gehen, aber wir ließen es

nicht zu. Nur mein Vater war zu Recht besorgt. – „Wer ist sie? Was

ist sie? Was hat sie getan? Das alles wissen wir nicht“, sagte er.

„Wenn wir Ärger bekommen wird es uns schlecht bekommen. Nur

weil wir Ausländer sind, werden sie uns noch schlechter

behandeln, vielleicht weisen sie uns sogar aus Deutschland aus“!

Jedoch dachten ich und meine Mutter anders darüber. Meine

Mutter: “Ich kann einen Menschen nach den Augen beurteilen“;

sagte sie. „Sie wird uns keinen Schaden zufügen, sie ist

bedauernswert, sie kann solange bleiben wie sie will“. Sie blieb ca.

eine Woche bei uns. Danach machte ich kurze Spaziergänge mit

ihr. Bei mir fühlte sie sich wohl und gewann allmählich ihr

Selbstvertrauen zurück.

Meistens gingen wir ans Rheinufer und beobachteten das Wasser,

die Brücken, die Passagier- und Frachtschiffe. Ich erzählte von mir

und sie erzählte von sich selber. Mein Gott, was musste dieses

junge Mädchen schon im Leben durchmachen!

„Ich bin in Berlin geboren“, erzählte sie. „Wir hatten in einem

Vorort ein großes Haus. Eschen schmückten unseren Garten. Die

schönste Zeit meiner Kindheit verbrachte ich in diesem herrlich

duftenden Garten. Wir waren zwei Geschwister. Mein Vater war

bereits schon gestorben als wir beide noch Babys waren. Ich

kannte ihn nur von Bildern. Nach dem Tod meines Vaters wurde

meiner Mutter alles gleichgültig und sie verfiel dem Alkohol. Sie

kümmerte sich nicht um uns. Unsere Großmutter wurde unsere

richtige Mutter, die sich rührend ums uns Kinder kümmerte. Und

es gab noch meinen Bruder Karl. Er war ein Jahr älter als ich. Wir

waren sehr traurig, als unsere Mutter uns schließlich verließ. Ich

war 12 Jahre alt und er war gerade erst 13 Jahre. Wir hatten die

ganze Nacht geweint. Dieser gemeinsame Schmerz verband uns

noch enger miteinander. An manchen Tagen ging ich mit Karl

zusammen Regenwürmer sammeln. Auf den Straßen gab es

immer diese braunen, dicken, schleimigen Schnecken. Wir

machten immer Wettbewerbe, wer die meisten Schnecken

zertreten konnte. Ich konnte immer das Knacken der harten Köpfe

unter meinen Füssen hören. Karl war ein kluges, aber

leichtsinniges Kind Er dachte nie an die Folgen seines Handelns

und tat immer das was ihm gerade in den Sinn kam. Das

schlimmste aber war, dass er mich auch immer anstiftete. Obwohl

er ein recht frecher Junge war, war er trotz allem liebenswert. Ich

liebte ihn sehr. Mit seinem Gesicht voll Sommersprossen, seinen

langen roten Haaren, seinen grünen Augen, die er von meinem

Vater geerbt hatte, war er einmalig. Sein erwachsenes Verhalten

mir gegenüber fand ich berauschend, faszinierend. Ich konnte mir

keinen Tag ohne ihn vorstellen. Eines Tages als wir uns wieder

ärgerten, nahm er eine schleimige Schnecke vom Boden und warf

sie auf meinen nackten Hals. Mir schien es, als ob diese kalte,

schleimige Schnecke durch meinen Hals in mein Inneres kroch.

Das war das erste was mich anekelte, nachdem uns meine Mutter

verlassen hatte. In jenem Augenblick schwankte ich zwischen

Übelkeit und Ohmmachtsattacken. Ich lief nach Hause, während

ich Karl beschimpfte. Ich umarmte meine Oma und weinte Rotz

und Wasser. Der Hass in mir war unbeschreiblich. Ich hasste alles.

Das Alleinsein, das Verlassensein und die damit verbundenen

Gefühle.

Vielleicht kamen mir bei diesem Erlebnis mit der Schnecke all diese

Gefühle in mir hoch. In jenem Augenblick öffnete sich die Tür zum

Abgrund und ich verlor mich mitten darin. Die Nächte weinte ich.

Ich weinte immer so heftig, dass ich weinend einschlief. Tagsüber

ging ich nach der Schule immer mit meinem weißen Hund Rose in

den Garten. Ich legte mich immer auf den Rasen und versuchte mit

meinem Hund Rose zu reden. Vielleicht wirst du es nicht glauben,

aber er verstand immer genau was ich sagte. Er schaute mir stets

tief in die Augen und hörte mir zu. Danach weinte ich, und je mehr

ich weinte, umso mehr jaulte er auf!“

„Meine Oma war eine alte, erfahrene, gute Frau. Sie war sehr

religiös. Bei jedem ihrer Kirchgänge versuchte sie auch uns

mitzunehmen. Meistens aber erfanden wir einen Grund, um nicht

mitgehen zu müssen. Und manchmal wenn ich doch dabei war,

schaute ich mehr zu meiner Oma als zum Priester. Immer wenn

der Priester betete, bewegten sich die Lippen meiner Oma und sie

wisperte. Obwohl sie viele Wehleiden hatte, versuchte sie doch

trotzdem uns die Einsamkeit zu nehmen. Sie nahm nicht mal mehr

den Namen meiner Mutter in den Mund. Vor allem meine

Trostlosigkeit machte ihr zu schaffen. Manchmal wenn wir beide

alleine waren, legte ich meinen Kopf auf ihre Knie. Sie liebkoste

meine Haare. Sie flüsterte immer dann in mein Ohr von meinem

tüchtigen, fleißigen, aufopferungsfähigen lieben Opa. Und von

ihrer Liebe zu ihm. Obwohl ich erst noch ein Kind war, konnte ich

verstehen, dass sie noch immer an ihm hing und ihn liebte.

Danach erzählte sie vom Krieg, von den Entbehrungen, von der

Nachkriegszeit, von der Trennung und wie sie sich die Menschen

mit dem zunehmenden Wohlstand ändern konnten!“

„Wegen der ständigen Arbeit, brachten sie unsere Liebe und

Gefühle um“, sagte sie immer. „Sie haben uns auch umgebracht.

Verstehst du mich? Sie brachten uns um. Kann ein Mensch

existieren wo die Liebe nicht herrscht? Wir entfremdeten uns

zunehmend voneinander, so dass wir uns nichts mehr zu sagen

hatten. Unsere ganzen Bindungen lösten sich auf. Überall konnte

man Menschen mit ihren schlechten Herzen sehen, und ihren

blutverschmierten Händen. Ich ekele mich für diese Entwicklung,

für diese Reinheit, für diese Künstlichkeit. Zum Glück bin ich schon

alt und dem Tod nahe. Ja, einerseits bin ich froh darüber. Aber

du… Deswegen bin ich traurig. Du wirst ganz alleine sein, wie ein

einsamer Baum. Du wirst in diesem Haus umherwandern, als ob

du in einer Höhle wärst. Keiner wird sich nach deinem Befinden

erkundigen.

Du wirst ständig weinen, dich selbst bemitleiden und dich somit

innerlich zerstören! Ich weiß es einfach nicht, wie du das alles

verkraften kannst. Das meiste, was sie prophezeite wurde

Wirklichkeit. Mit 18 Jahren war ich ganz alleine. Als ich eines

Tages, abends von der Schule kam, fand ich sie ohnmächtig auf

dem Boden. Ich rief den Arzt. Sie wurde ins Krankenhaus

eingeliefert. Sie war auf einer Seite ihres Körpers behindert. Ich

ging noch in die Schule, deswegen war es mir unmöglich, ihre

Pflege zu übernehmen, Deshalb wiesen wir sie in ein Pflegeheim

ein. Kurze Zeit später zog dann auch noch Karl mit seiner Freundin

nach Hamburg um. Wie es schon meine Großmutter gesagt hatte,

war ich nun ganz alleine auf mich selber gestellt

Dieses große Haus erschien mir wie eine Höhle. Sobald ich einen

Fuß über die Schwelle der Tür trat, begannen meine Hände und

Füße zu zittern an. Ich kannte keinen Platz wo ich hin konnte. Ich

kannte auch keinen mit dem ich hätte reden können. Die Nächte

konnte ich nicht schlafen. Innerlich wurde ich zerfressen von

Ängsten und Depressionen. Manchmal zwang ich mich dazu an

Jesus Christus zu denken, von dem immer meine Oma erzählte.

Aber alles war so unendlich weit weg von mir. Über das Leben

konnte ich nur negativ denken. Was ist das Leben? fragte ich mich

selbst. Eine Kloake, ein Abgrund, ein großer Haufen Dreck? Wir

fallen ständig von einem Haufen in den nächsten!“

„Eines Morgens wachte ich früh auf und verließ das Haus. Zwei

Tage wanderte ich durch die Straßen umher. Ich beobachtete die

Menschen in der Hohestraße. Ich hatte nichts zu tun. Auch wenn

ich Arbeit hätte, hätte ich sowieso keine Kraft sie auszuführen.

Denn ich war nicht bei mir selbst. Ich suchte ständig nach

jemandem, der mich zu mir selber bringt. Ich kann nicht sagen

wen ich eigentlich suchte. Aber ich suchte trotzdem nach ihm. Ich

wollte dass er immer bei mir ist und meine Hand hält. Verödet,

ohne ihn, weit hinten, inmitten von hunderten von Menschen war

ich alleine und nicht bei mir selbst. Ich wurde wahnsinnig, weil ich

keinen fand, mit dem ich hätte reden können. Ich wollte alle

beschimpfen, hatte aber Angst. Ich wollte weg gehen, wusste

aber nicht wohin. Alles zerbrach in mir und ich lief von allem weg.

Verfluchterweise wurde ich in meiner eigenen Heimat eine Fremde.

Niemand liebte mich. Meine inneren Gefühle, die Farben in meinen

Augen, die Wärme in meinem Herzen und meinen Händen, alles

was mich zu einem Menschen ausmachte, wurde einfach nicht

wahrgenommen. Man sah mich wertloser als einen besitzlosen,

verkrüppelten Hund. Zumindest dachte ich so.

Ich war wütend…. Ich war wütend auf die, die mich so in meiner

Lage sahen und mich nicht fragten: ‘WAS HAST DU DENN?‘ Mit

dieser Wut, schleppte ich mich in ein Gasthaus. In diesem

Gasthaus konnte man kaum die Hand vor Augen erkennen. Dicke

Rauchwolken hatten es eingenebelt. Drinnen Gerüche, die sich

vermischten, Schimmel, Schweiß, Alkohol. Mit dem

Geräuschpegel zusammen wurde einem schwindelig. Ich setzte

mich an einen runden Tisch mit grüner Tischdecke, der in einer

Ecke des Gasthauses stand. Ich ignorierte die Blicke der Anderen.

Ich rief die jugoslawische Kellnerin, die bestimmt schwarz

angestellt war, und bestellte mir einen Whisky. Je mehr ich tank

umso schwindliger wurde mir. Ich verließ mehr und mehr diese

Welt und mein Leben. Und je mehr ich mich an den Alkohol

gewöhnte, umso mehr entfernte ich mich von der Schule. Mir war

alles gleichgültig geworden. Ausbildung, Zukunft, ein gutes Leben,

mir war alles egal. Dabei war ich mitten im Abitur und trotz all den

Sorgen die auf meinen Schultern lasteten, hatte ich gute Zensuren.

Meine Großmutter wollte immer, dass ich studiere und einen

guten Job habe und einen festen Platz in der Gesellschaft. Einmal

meinte sie sogar: ‚Ich habe von dir geträumt, es war ein schöner

Traum. Auf deinem Gesicht ging die Sonne auf. Das bedeutet,

dass du eine wichtige Person wirst‘. „Ich habe aber nicht studiert.

Während sie redete, schaute ich abwechselnd sie und den Himmel

an. Am Himmel waren flauschig weiße Wolken, die miteinander

spielten. Die Sonne tauchte zwischen ihnen auf und verschwand

dann wieder immer.

Die Straßen wurden dichter. Es war schon vier Uhr. Die Arbeiter

hatten schon Feierabend und gingen nach Hause. Einige zu Fuß,

einige mit dem Rad und andere mit der Straßenbahn. Man konnte

ihre Ungeduld von den Augen ablesen. Eine warme Suppe, ein

Stück Brot, eine Flasche Bier und auf der Couch vor dem

Fernsehen dösen. Ich blieb drei Monate in Berlin. Danach konnte

ich Berlin nicht mehr ertragen. Ich vermietete unser Haus und kam

nach Köln. Einen Tag bevor ich nach Köln kam, besuchte ich noch

mal meine Oma. Sie redete nicht. Sie richtete ihre Augen auf mich

und weinte nur. Ich blieb zehn Minuten bei ihr. Mir kam es so vor,

als ob ich mit ihren Tränen in einen Abgrund fiele.

Ich arbeitete in Köln in Gaststätten. Zwei Jahre war ich zwischen

Betrunkenen und falschen Heuchlereien. Ich vergaß mich.

Zumindest dachte ich, dass ich mich vergaß. Ich dachte wenn es

mich nicht mehr gibt, dann gibt es gar nichts mehr.

Deswegen versuchte ich alles, um mich durch mein Denken

verschwinden zu lassen. Ich trank ständig. Einmal trank ich wieder

einmal bis spät in die Nacht. Danach ging ich an die frische Luft,

um meinen brennenden Körper zu kühlen. Draußen regnete es.

Mitten auf der Straße blieb ich stehen und versuchte, die

Regentropfen aufzufangen. Die in meiner Umgebung stehenden

bunten Wände, die aus vergangener Zeit zurück gebliebenen

Parksteine, die kaputten Bordsteine, alles schien Feuer zu spucken.

Autos, Menschen, Stimmen, Farben, alles schien verschwunden

zu sein. Die Stadt schien ein großer Friedhof zu sein. Ich hatte das

Bedürfnis mich gegen eine Wand zu lehnen, einen Baum zu

umarmen und einzuschlafen. Ich war müde und deprimiert. Ich

ging weiter. Ich rannte, wobei ich meine Finger fest in meine Hand

bohrte. Später lief ich fluchtartig vor allem fort. Vor den rechts und

links stehenden Autos, den Menschen, den Hunden, dem Wind

und vor den Geräuschen der Fliegen. Ich lief eben vor allem weg.

Hinter mir hörte ich Schritte. Vielleicht waren es auch nur meine

eigenen Schritte. Sie verfolgten mich und wünschten mir eine gute

Reise. ‘Los lauf, mach dich fertig‘, sagten sie. Vielleicht war es

auch bloß nur meine eigene Stimme. Ich war außer Atem. Die

Spitze meiner Nase vibrierte und unter meinen Achseln war ich

schweißgebadet. Ich setzte mich auf den Bordstein. Dort bin ich

wohl ohnmächtig geworden!“

Als sie zu Ende geredet hatte, nahm sie tief Luft. Sie war ermüdet.

Beschämt hielt ich ihre Hand. Mit ihren Fingern drückte sie meine

Hand. Sie legte ihren Kopf auf meine Schultern. Danach kamen aus

ihrem Mund zwei türkische Wörter:

„Süt, kizim“ (Milch, meine Tochter).

„Zwei von einigen Wörtern, die ich auf türkisch kann!“ Danach

sprach sie weiter: „Ich habe das von deiner Mutter gelernt. Deine

Mutter machte mir jeden Morgen ein Glas Milch warm und gab

einen Löffel Honig dazu. Wenn du nicht da warst verständigten

wir uns nur mit den Augen. Sie sagte mir immer ‘Süt, kizim‘, als

sie das Glas Milch reichte. Ich küsste sie zurückhaltend auf die

Wange. Weist du sagte sie behutsam. Als du mich auf deinen

Rücken genommen hast, war ich nicht ganz bei mir selbst. Als ich

ab und zu wieder zu mir kam, dachte ich, ich sei tot und bereits in

einer anderen Welt. Später als ich zu mir kam und neben mir deine

Mutter sah, die sich um mich kümmerte und mir den Schweiß von

der Stirn wischte, die ständig lächelte und ein gutes reines Herz

hat, kam sie mir mit ihrem weißen Kopftuch wie ein Engel vor.

Manchmal erzählte meine Oma uns von Engeln und Heiligen, um

uns zu beeindrucken. Reine, leuchtende Erscheinungen. Ich dachte

mir, diese Frau die bei mir ist, die in meine Augen schaut, die mein

Gesicht und Haare streichelt, die mich mit ihren eigenen Händen

gefüttert hat und mir Wasser gab, muss eine von diesen sein.

Auch wenn wir uns gegenseitig sprachlich nicht verständigen

konnten, verstanden wir uns ohne große Probleme. Ich verstand

alles was sie mir sagte. Und sie verstand mich. Das kann man

vielleicht nicht glauben, aber es war so. Zum ersten Mal erkannte

ich, was ein warmes Lächeln alles bedeuten konnte. Ich kam mir

vor wie im Paradies, wenn sie bei mir saß, meine Haare streichelte

und wenn sie lachend in meine Augen schaute.

Ist es nicht schön ein Mensch zu sein? Zu fühlen, dass du ein

Mensch bist? „Ja“, sagte ich.

Sie schloss ihre Augen und flüchtete in meine Arme. Ihr Kopf war

auf meiner Brust, sie schlang ihre Arme um meinen Hals und

weinte. Auch ich weinte mit ihr. Wie schön ist es doch ein Mensch

zu sein, zu fühlen dass man ein Mensch ist!