DER HOCHLÄNDER (DAGLI)

DER HOCHLÄNDER (DAGLI)

ORHAN ARAS

Hochländer sagten sie zu ihm. Sie erzählten, dass er aus einem weit entfernt gelegenen Bergdorf gekommen sei. Er gehörte nicht zu den schnell erregbaren Menschen. Er war aber auch kein Spaßmacher. Er war still und verschlossen. Lächelte er ständig oder war sein Naturell so? Ich kann es nicht wissen. Der einzige Charakterzug, den ich von ihm kenne, ist, dass er zu allem die Schultern im Sinne eines „Ich weiß nicht“, zuckte. Ob nach seinem Leben, nach seinem Namen nicht gefragt worden ist? Immer wieder ist er gefragt worden! Auf dem Dorfplatz ist er, ähnlich wie ein Schuldiger vor dem Richter, verhört worden. Als einzige und einfache Antwort zuckte er, anstatt zu sprechen, mit den Schultern: “Weiß ich nicht“. Anfangs sagten sie: „Er ist gewiss ein Flüchtling“. Sie dachten sogar daran, die Gendarmerie zu benachrichtigen. Sein angenehmes Äußeres, sein, wenn auch stummes, seelenvolles Gemüt, seine Hilfsbereitschaft, widerlegten ihre Unterstellungen vom Flüchtling. Es kamen auch andere Gerüchte auf. “Er ist verliebt, er ist wie der berühmte Liebesheld Medschnun“. „Nein, nein, er ist bestimmt von einem anderen Volke, aber er könnte auch ein Spion sein“. –„Er hat nichts von Spionage an sich. Bestenfalls ist er ein neuzeitlicher Derwisch“. Das Maul der Leute ist kein Sack, den du zubinden kannst. Was jemandem in den Sinn kam, wurde ausgesprochen, Meinungen weitergesponnen. Eines Tages jedoch brachte der gutherzige Dorfvorsteher alle die, von denen der Klatsch ausgegangen war, zum Schweigen. “Er gehört zu den armen, bedauernswerten Menschen; es soll nicht eure Angelegenheit sein. Er soll tun, was er will und in Frieden leben“. Durch das Einschreiten des Muhtars, des Dorfvorstehers, wurde der Ring um den Hochländer aufgelöst. Er hatte einen Beschützer gefunden und der stand ihm nun am nächsten. Er wurde aus dem baufälligen Haus, in dem er seit seiner Ankunft wohnte, ausquartiert und ihm wurde ein kleines Haus zugewiesen, das aus einem einzigen Zimmer bestand. War er glücklich? Er hat es ja nicht zuerkennen gegeben. Selbst wenn er keine Unterkunft hatte, schwand das Lächeln nie aus seinem Gesicht. Durch die Vermittlung des Muhtars säte er einen Teil eines öffentlichen Baumwollfeldes ein. Er wollte alle Arbeiten selbst verrichten: Das Umhacken, Bewässern, Pflücken. Er sollte von der Baumwolle einen Anteil bekommen .Als er gegen Abend nach Hause ging, habe ich seine Augen zum ersten Male vor Freude glänzen gesehen. Das heißt also: Er hatte Freude am Arbeiten und am Verdienen. In den wasserknappen Dörfern hielten die Leute die ihr Feld bewässerten am Kanal, der dem Dorf das Wasser gab, der Reihe nach Wache. Seite 1 Diese Wache gab es, um Wasserdiebstahl zu verhindern. Zufällig war ich mit dem Hochländer an der Reihe, die Wasserwache zu halten. Da der Kanal ziemlich weit entfernt war, machten wir uns sofort nach Sonnenuntergang auf den Weg. In der Hitze des Sommers sind die Abende für die Dorfbewohner wie eine Erholung. Die mit der Finsternis zusammen langsam und zögernd kommende leichte Brise bringt der während des langen Tages brennenden Erde, den Steinen, den Menschen eine süße Kühle. Deshalb sitzen abends alle Dorfbewohner entweder vor dem Hause oder auf den staubigen Straßen des Dorfes. Obwohl wir uns etwa drei Kilometer vom Dorfe entfernt hatten, hatten wir nicht ein einziges Wort gesprochen. Es war nicht so, daß ich nicht sprechen wollte. Der Hochländer entmutigte mich. Seine Augen nach vorn gerichtet, eine Hand am Stiel seines Spatens, die andere Hand schnell vor- und zurückbewegend, so marschierte er vorwärts. Auf dem ungepflasterten Weg und in der Finsternis war außer dem Geräusch unserer Schritte und unseren vom tiefen Luftholen laut hervorkommenden Atemzügen kein anderes Geräusch zu hören. Der Mond am Himmelsgewölbe stand im vierzehnten Tag. Vor den Sternen gab es keine Spur von Tüll durch eine Wolke. Durch den leicht wehenden Wind bewegten sich die Pflanzen hin und her, in der großartigen Stille des Mondscheins schufen die Geräusche unserer Schritte mit unseren Atemzügen eine neuartige Musik. Ich war ziemlich müde, als wir den Kanal erreichten. ich konnte nicht feststellen, wie sich der Hochländer fühlte, da von ihm kein Ton zu hören war. Wir setzten uns einander gegenüber. Ich bot ihm eine Zigarette an, er nahm sie nicht an. Unaufhörlich flohen seine Augen die meinigen. „Wie herrlich das Wetter ist“, sagte ich. Er nickte, er schaute auf das wie verrückt fließende Wasser. Das schmutzige Wasser hatte das Blinken des Mondscheins in sich aufgesogen, und es sah aus, als ob es sich gesäubert und beruhigt hätte. Der Hochländer nahm seine Augen von dem Wasser und schaute mich eine Sekunde lang an. Ich überlegte, ob er mir vielleicht etwas sagen wolle. Ich wartete, kein Ton. Er schaute wieder aufs Wasser. Von da an vergingen zwei Stunden. Es war noch lange bis zum Morgen. Ich wäre verrückt geworden, wenn er nicht gesprochen hätte. Die Zeit verging nicht dadurch, dass ich dem murmelnden Wasser zuhörte. Mit einem plötzlichen Entschluss fragte ich: „Weiß du, was die Dörfler über dich denken?“ Wahrscheinlich geschah ein Wunder. Er sagte: „Ich weiß.“ Diese Gelegenheit wollte ich mir nicht entgehen lassen. „Sind sie deiner Ansicht nach nicht im Recht?“ Er zuckte die Schultern. Er nahm einen Stein und schleuderte ihn ins Wasser. „Sie nennen dich „Dagli“, also Hochländer, “ Hast du keinen Namen oder so?“ Er zuckte wieder mit den Schultern. Ich sagte zu mir: „Es gibt keine Möglichkeit, diesen Mann zum Sprechen zu bringen.“ Ich streckte mich lang auf der heißen Erde aus. Es wäre doch gut, wenn ich ein wenig schlafen könnte. „Würdest du Wache halten, wenn ich ein bisschen schlafe?“ Im Sinne von „Alles klar“ bewegte er seinen Kopf. Ich legte meinen rechten Arm unter meinen Kopf wie ein Kissen und schloss meine Augen. Ich hatte wahrscheinlich ein paar Stunden geschlafen. Denn es war schon die halbe Nacht vorüber, als ich angestoßene und geweckt wurde. Wie ein schüchternes Kind sagte er: „Gibst du mir eine Zigarette?“ Ich streckte ihm sofort eine Zigarette hin, und zündete auch eine für mich an. Die Betäubung des Schlafes war noch nicht von mir gewichen. Mit leiser Stimme fragte er: „Bist auch du wie alle sehr neugierig auf mich?“ „Ja“, sagte ich. Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und begann zu reden. Er wandte seine Augen nicht von dem fließenden Wasser. „Es sind genau zwei Jahre vergangen. Noch hat kein Mensch mir zugehört, meine Stimme gehört. Ob sie nicht fragten...Ich antwortete nicht, ich konnte nicht. Vielleicht sterbe ich auch wenig später. Denn immer wenn jene Stimmen mich rufen, kann ich hier nicht bleiben, kann ich nicht leben. Ich wollte, dass das jemand wisse, falls ich sterbe. Darum habe ich dich aus dem Schlaf geweckt. Mich kennenzulernen ist dir vom Geschick zugeteilt.“ Er stockte etwas. Es war, als ob er von dieser kurzen Rede ermüdet wäre. Ich sagte nichts. Ich wartete auf sein Erzählen. Er erzählte weiter, nach dem er seine Zigarettenkippe fortgeworfen hatte. „Ich werde über mein Leben vor dem Schicksalsschlag, der über mich kam, kurz berichten. Denn jene meine vergangenen Jahre haben keine andere beachtenswerte Seite, als meinen Kampf mit der Erde. Ich bemühte mich, den für mein Leben notwendigen Bedarf aus dem Boden herauszuholen. Mitten in diesen Anstrengungen drehte mir ein Glücksstern einmal sein Gesicht zu, ich hatte das Glück, die Frau kennenzulernen, die meine Gattin werden sollte. Sie war eine der Töchter eines in der ganzen Umgebung bekannten, angesehenen und sehr reichen Herren Kazim aus einem der uns nahegelegenen Dörfer. Ich kannte das, was man die Liebe nennt nicht, da ich mich bis zu jener Zeit außer mit der Erde mit etwas anderem nicht beschäftigen und mich für Mädchen nicht interessieren konnte. Ich begann von jenem Tage an, nur an sie denken. Ihre elfenhafte Gestalt nahm mir den Verstand. Ich ließ all´ meine Arbeiten liegen und begann, fortwährend zu meinen Verwanden zu gehen. Da ihre Häuser nahe zusammen lagen konnte ich sie meistens sehen. Es war nicht so, dass ich ihre bisweilen heimlichen Blicke nicht einfing. Ich hatte erkannt, dass auch sie mich liebte. Ob ich gut aussah? Was weiß ich! Ich hatte gar nicht auf mich selbst geachtet .Da ich keine Mutter und keinen Vater hatte, eröffnete ich meinen Zustand meinem Verwandten. Er sprach nicht sehr bereitwillig. „Vielleicht geben sie sie gar nicht“, sagte er. Dennoch bestand ich auf seiner Werbung. Herr Kazim war ein barmherziger Mann. „Wenn meine Tochter zu jemandem geht, gebe ich sie ihm“, soll er gesagt haben. Sie fragten das Mädchen; nach ihrer positiven Antwort begannen wir mit den Hochzeitsvorbereitungen. Wenn ich Hochzeit sage: Eine aufwendige Sache konnte ich nicht machen. Da ich Herrn Kazims Hilfe nicht wollte, konnten wir nur eine einfache Hochzeitsfeier durchführen. Nach der Hochzeit begann in meinem Leben ein neuer Anschnitt. Ein Jahr später gab es unser erstes Kind. Beide waren wir auch glücklich. Als unser erstes Kind zwei Jahre alt war, kam unser zweites Kind. Beide waren Jungen. Als die Kinder in das Alter kamen, Arbeit zu verrichten, entschlossen wir uns, ein neues Haus zu bauen, um aus dem alterwürdigen Hause auszuziehen. Du weißt, auf den Dörfern beginnen die Kinder sehr früh zu arbeiten. Meine Kinder waren auch schon herangewachsen. Das eine war im zwölften, das andere im zehnten Lebensjahr. Wir sagten, dass wir uns von diesem alten Hause befreien wollten und begannen, auf unserem einzigen Grundstück ein einer Ecke des Feldes oberhalb des Baches das Haus zu bauen. Wir machten alles mit Entschlossenheit und Freude. Eine Sache tun zu können, ein Werk zustande bringen zu können, vergrößert des Menschen Wunsch zu arbeiten. Nachdem wir die Lehmziegel gegossen und getrocknet hatten, beendeten wir den Bau des Hauses innerhalb eines Monats. In diesem Monat zogen wir in unser neues Haus um. Obwohl wir vom Dorf ein wenig entfernt wohnten, empfanden wir keine Einsamkeit. Wir merkten nicht, wie in der herrlich duftenden Luft der Almwiese die Tage kamen und gingen. Nach dem Umzug in das Haus waren etwa zwei Monate vergangen. Es war Vollmond wie in dieser Nacht, eine Nacht hell glänzender Sterne. Da sie sich tagsüber sehr verausgabt hatten, schliefen die Kinder. Ich saß mit meiner Frau auf der Türschwelle, teils schauten wir in die Umgebung, teils auch machten wir Pläne, die Zukunft betreffend. Als meine Frau nebenbei sagte, sie sei schwanger, umarmte ich sie vor Freude. Obwohl lange Jahre verflossen waren, hatte sich meine Liebe meiner Frau gegenüber in keiner Weise vermindert. Als schwarze Wolken den Glanz des Vollmondes und das Funkeln der Sterne verdeckten, gingen wir hinein. Wenig später begannen heftige Regenfälle. Durch den Donner und das Geräusch der Regenströme wurden auch die Kinder geweckt. Da meine Frau und ich auch zu Bett gingen, versuchten die Kinder ebenfalls zu schlafen. Es war nahe bis zum Morgen, da hörten wir sehr starken Lärm. Es gab Geräusche, als ob die Himmel herunterkämen, als ob die Berge zusammenbrächen. Als erster ging ich nach draußen. Durch den fürchterlichen Regen während der Nacht war der Bach über die Ufer getreten, überall war Wasser. Das Steine und Bäume mit sich schleppende Verhängnis würde zweifellos auch unser Haus niederreißen. Sofort nahm ich Frau und Kinder, wir begannen, direkt auf den Berg zu zuflüchten. Bevor wir zwanzig Meter weit gekommen waren, fing uns der reißende Bach. Wie eine Schlange umfassten uns die fürchterlichen Wasser von allen Seiten. Es gab keine Rettung. Indem er uns vor sich hertrieb, schleppte der Bach jeden von uns zu unterschiedlichen Seiten fort. In diesem höllischen Lärm hörte ich die Stimmen meiner Kinder und meiner Frau. „Komm, rette uns“, sagten sie. Ich konnte und konnte sie aber nicht finden. Die Kraft verlierend, ließ ich mich treiben. Ich kann mich erinnern, gegen einen harten Gegenstand gestoßen zu sein. Als ich zu mir kam, war über mich die schärfste Strafe verhängt worden: Ich lebte! Tagelang suchte ich meine Frau und meine Kinder. Später konnte ich es nicht mehr aushalten und floh wie verrückt fort von dort. Ihre mich immer erinnernden, nach Hilfe schreienden Stimmen ließen mich nie in Ruhe. Diese Rufe nach mir höre ich immer noch.“ Er schwieg. Wahrscheinlich hatte er seine Geschichte beendet. Ich fühlte einen starken Schmerz. Ich bereute schon, zugehört zu haben. Als ich noch einmal zu ihm hinschaute, sah ich seine Tränen. Ich fand kein Wort, ihn zu trösten. Er trocknete seine Tränen und fuhr fort: „Frag nicht nach meinem Namen. Wie jedermann, kenne auch du mich als Dagli, den Hochländer. Wenn ich zu den Stimmen meiner mich rufenden Kinder gehe, erzähle meine Geschichte. Sage, Dagli war überhaupt nicht so, wie ihr gedacht habt. Sage, Dagli war ein verletzter Vogel. Sage, Dagli war ein Heimatloser, war unglücklich!“ Ich stand auf und nahm seine Hände. Sie waren wie ein trockener Baum. „Für mich bist du ein ehrenwerter Vater, ein treuer Ehemann“, sagte ich. Der Mond hatte sein Licht fortgezogen, die Sterne waren matt geworden. Vielleicht kam es mir auch nur so. Es war die Zeit der Baumwollernte. Die Dorfbewohner waren alle damit beschäftigt, die Früchte ihrer Arbeit zu pflücken. Man konnte einander sehr selten sehen. Denn morgens ging man vor Sonnenaufgang auf die Felder, in der Finsternis des Abends kehrte man nach Hause zurück. Als ich eines Abends vom Felde zurückkam, sah ich eine Menschenmenge. Ich näherte mich, „Was ist los?“ fragte ich. „Dagli ist tot“, sagten sie. Ein von meinem Magen her kommender stechender Schmerz umhüllte meinen ganzen Körper. Es war, als ob ich einen sehr nahen Verwanden verloren hätte. Bevor er die Ernte seines Feldes hatte genießen können, war er endlich zu den rufenden Stimmen gegangen. Wann immer ein Gast sich zu manchen Dörfern Ostanatoliens begibt, ist es die Hausherren mit Schmerz vorgetragene Geschichte vom unglücklichen Dagli, die ihm erzählt wird.