Interpretation "Dantons Tod" von Georg Büchner (Seite 4)

"Du leugnest die Tugend?" fragt ihn Robespierre, worauf Danton entgegnet: "Und das Laster. Es giebt nur Epicuräer und zwar grobe und feine." Damit vertritt er ein Menschenbild, das sich in gleichem Maße gegen die Vorstellung des Menschen als Sünder wendet wie gegen die Annahme, der Mensch sei von sich aus gut. Entscheidend für dessen Handlungen sind zunächst die materiellen Bedürfnisse (ähnlich formuliert es ein Jahrhundert später Bertolt Brecht); erst wenn dieses Faktum berücksichtigt wird, kann eine Revolution überhaupt neue Verhältnisse schaffen.

Büchners Drama macht diesen Sachverhalt deutlich: Die zahlreichen Volks-Szenen verweisen unmißverständlich auf das nach wie vor bestehende Elend, auf die Notwendigkeit sozialer Gerechtigkeit. Es ist immer wieder betont worden, dass das Volk der eigentliche 'Held' des Stückes sei – dabei ist es keineswegs ein Widerspruch, dass eben dieses Volk als gewalttätig und beeinflussbar, ja geradezu als Pöbel gezeichnet ist: Ohne die Befreiuung von den bestehenden materiellen und ideologischen Zwängen kann es kein ethisches Verhalten geben, weil die Voraussetzung dafür die Freiheit ist. Freiheit ist aber nur denkbar, wenn das Wesen des Menschen in seiner materiellen und triebhaften Gebundenheit akzeptiert wird. Die beinahe obsessive Häufung von sexuellen Anspielungen und mitunter obszönen Äußerungen, die den Text charakterisiert, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Es handelt sich dabei keineswegs um reine Provokation (die ins Leere gelaufen wäre, denn der Erstdruck erschien als sorgsam gesäuberte, 'jugendfreie' Fassung), sondern um den impliziten Aufruf, die menschliche Natur in ihrer Bedingtheit zu akzeptieren. Erst wenn dies geschieht, ist auch eine humane Staatsform möglich, wie Camille Desmoulins sie in der Eröffnungsszene entwirft: "Die Staatsform muß ein durchsichtiges Gewand seyn, das sich dicht an den Leib des Volkes schmiegt. Jedes Schwellen der Adern, jedes Spannen der Muskeln, jedes Zucken der Sehnen muß sich darin abdrücken. Die Gestalt mag nun schön oder häßlich seyn, sie hat einmal das Recht zu seyn wie sie ist, wir sind nicht berechtigt ihr ein Röcklein nach Belieben zuzuschneiden."

Nur jenseits von ideologischen Dogmen, das macht Büchners Drama deutlich, kann das Zusammenleben von Menschen sinnvoll gestaltet werden.

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