Ungekürztes Werk "Der Stechlin" von Theodor Fontane (Seite 235)
dann fährt der Woldemar rum und erzählt überall, Katzenstein sei der rechte Mann. Oder irgendein andrer. Aber das ist Mus wie Mine – verzeihen Sie den etwas fortgeschrittenen Ausdruck. Und wenn dann die junge gnädige Frau Besuch kriegt oder wohl gar einen Ball gibt, da will ich Ihnen ganz genau sagen, wer dann hier in diesem alten Kasten, der dann aber renoviert sein wird, antritt. Da ist in erster Reihe der Minister von Ritzenberg geladen, der, wegen Kaltstellung unter Bismarck, von langer Hand her eine wahre Wut auf den alten Sachsenwalder hat, und eröffnet die Polonaise mit Armgard. Und dann ist da ein Professor, Kathedersozialist, von dem kein Mensch weiß, ob er die Gesellschaft einrenken oder aus den Fugen bringen will, und führt eine Adelige, mit kurzgeschnittenem Haar (die natürlich schriftstellert), zur Quadrille. Und dann bewegen sich da noch ein Afrikareisender, ein Architekt und ein Porträtmaler, und wenn sie nach den ersten Tänzen eine Pause machen, dann stellen sie ein lebendes Bild, wo ein Wilddieb von einem Edelmann erschossen wird, oder sie führen ein französisches Stück auf, das die Dame mit dem kurzgeschnittenen Haar übersetzt hat, ein sogenanntes Ehebruchsdrama, drin eine Advokatenfrau gefeiert wird, weil sie ihren Mann mit einem Taschenrevolver über den Haufen geschossen hat. Und dann gibt es Musikstücke, bei denen der Klavierspieler mit seiner langen Mähne über die Tasten hinfegt, und in einer Nebenstube sitzen andere und blättern in einem Album mit lauter Berühmtheiten, obenan natürlich der alte Wilhelm und Kaiser Friedrich und Bismarck und Moltke, und ganz gemütlich dazwischen Mazzini und Garibaldi und Marx und Lassalle, die aber wenigstens tot sind, und daneben Bebel und Liebknecht. Und dann sagt Woldemar: ›Sehen Sie da den Bebel. Mein politischer Gegner, aber ein Mann von Gesinnung und Intelligenz.‹ Und wenn dann ein Adeliger aus der Residenz an ihn herantritt und ihm sagt: ›Ich bin überrascht, Herr von Stechlin – ich glaubte den Grafen Schwerin hier zu finden‹, dann sagt Woldemar: ›Ich habe die Fühlung mit diesem Herrn verloren.‹«
Der Pastor lachte. »Und Sie wollen sterben. Wer so lange sprechen kann, der lebt noch zehn Jahr.«
»Nichts, nichts. Ich halte Sie fest. Kommt es so oder kommt es nicht so?«
»Nun, es kommt sicherlich nicht so.«
»Sind Sie dessen ganz sicher?«
»Ganz sicher.«
»Dann sagen Sie mir, wie es kommt, aber ehrlich.«
»Nun, das kann ich leicht, und Sie haben mir selber den Weg gewiesen, als Sie gleich anfangs von ›König und Kronprinz‹ sprachen. Dieser Gegensatz existiert natürlich überall und in allen Lebensverhältnissen. Es kommen eben immer Tage, wo die Leute nach irgendeinem ›Kronprinzen‹ aussehn. Aber so gewiß das richtig ist, noch richtiger ist das andre: der Kronprinz, nach dem ausgeschaut wurde, hält nie das, was man von ihm erwartete. Manchmal kippt er gleich um und erklärt in plötzlich erwachter Pietät, im Sinne des Hochseligen weiterregieren zu wollen; in der Regel aber macht er einen leidlich ehrlichen Versuch, als Neugestalter aufzutreten, und holt ein Volksbeglückungsprogramm auch wirklich aus der Tasche. Nur nicht auf lange. ›Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch eng im Raume stoßen sich die Sachen.‹