Interpretation "Effi Briest" von Theodor Fontane (Seite 5)

Aber Fontanes Roman ist weit davon entfernt, eine derart vereinfachte Deutung zuzulassen. Schon die Tatsache, dassß Effis Vater gegen den Willen der Mutter die kranke Tochter nach Hause holt, stellt den Sinn der starren Verhaltensmuster in Frage: "Aber das ist nun schon wieder eine halbe Ewigkeit her; soll ich hier bis an mein Lebensende den Großinquisitor spielen?"

Und vor allem die Entwicklung Innstettens entlarvt den Ehrbegriff und die an ihn geknüpften Konsequenzen als unmenschlich. "Rache ist nichts Schönes, aber was Menschliches und hat ein natürlich menschliches Recht. So aber war alles einer Vorstellung, einem Begriff zuliebe, war eine gemachte Geschichte, halbe Komödie."

Diese allerdings tödlich endende Komödie verschafft ihm keine Genugtuung – im Gegenteil, sein bitteres Fazit lautet: "Mein Leben ist verpfuscht." Mögen seine Gedanken an ein Auswandern nach Afrika nicht wirklich ernst gemeint sein, so spiegeln sie doch seine tiefe Skepsis wider: "weg von hier, weg und hin unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen. Diese Glücklichen. Denn gerade das, dieser ganze Krimskrams ist doch an allem schuld."

Aber mit dieser Einsicht allein können die Verhältnisse nicht geändert werden. Das gesellschaftliche System bleibt erhalten, solange dessen Normen über die Generationen tradiert werden. In der beklemmenden Szene, in der Annie ihrer Mutter wiederbegegnet und gleichzeitig den Kontakt verweigert, wird deutlich, mit welcher Wirksamkeit die über die Erziehung vermittelten Verhaltensregeln ihre Gültigkeit behalten – selbst die engste aller menschlichen Verbindungen, diejenige zwischen Mutter und Kind, ist von der Erlaubnis der Gesellschaft abhängig. Und so erhält Effi statt echter Zuwendung nur die stereotype Antwort "O gewiß, wenn ich darf."

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