Ungekürztes Werk "Soll und Haben" von Gustav Freytag (Seite 8)

Pferd anhielt und freundlich fragte: »Suchen Sie jemand hier? Vielleicht wünschen Sie meinen Vater zu sprechen?«

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Anton mit tiefster Ehrerbietung. »Wahrscheinlich bin ich auf einem Wege, der Fremden nicht erlaubt ist. Ich kam den Fußsteig über die Wiesen und sah kein Tor und keinen Zaun.«

»Das Tor ist auf der Brücke, es steht am Tage offen«, belehrte das Fräulein, gnädig auf Anton sehend; denn da Ehrfurcht nicht gerade das gewöhnliche Gefühl ist welches vierzehnjährige Fräulein einflößen, so war ihr die massenhafte Anhäufung dieser Empfindung außerordentlich wohltuend.

»Da Sie im Garten sind, wollen Sie sich nicht darin umsehen? Es wird uns freuen, wenn er Ihnen gefällt«, fügte sie mit Würde hinzu.

»Ich habe mir die Freiheit genommen«, erwiderte Anton wieder mit Verbeugung, »ich war bis dort oben am Rasenplatz vor dem Schloß. Er ist prächtig!« rief der ehrliche Junge begeistert aus.

»Ja«, sagte die Dame, immer noch den Pony anhaltend, »Mama hat selbst dem Gärtner alles angegeben.«

»Also die gnädige Frau, welche vorhin auf dem Balkon stand, ist Ihre Frau Mutter?« fragte Anton schüchtern.

»Ah! Sie haben uns belauscht«, rief die Kleine und sah ihn vornehm an. »Wissen Sie, daß das nicht hübsch war?«

»Seien Sie mir deshalb nicht böse«, bat Anton demütig; »ich trat so­gleich zurück, aber es sah wunderschön aus. Die beiden Damen ne­beneinander, die Büschel blühender Rosen und das zackige Weinlaub um Sie herum. Ich werde das nicht vergessen«, fügte er ernsthaft hinzu.

»Er ist allerliebst!« dachte das Fräulein. »Da Sie soviel von unserm Garten gesehen haben«, sagte sie herablassend, »so müssen Sie auch auf die Punkte gehen, wo Aussichten sind. Ich reite dahin – wenn Sie mir folgen wollen.«

Anton folgte in der glücklichsten Stimmung. Das Fräulein redete ihrem Pferde zu, im Schritt zu gehen, und machte den Erklärer. Sie zeigte ihm große Baumgruppen und freundliche Aussichten auf die Landschaft, legte dabei einen Teil ihrer Majestät ab und wurde gesprächig. Bald plauderten beide so ungezwungen wie alte Bekannte. Endlich stieg das Fräulein ab, als ihr einige Stufen eine schickliche Veranlassung gaben, und führte das Pferd am Zügel; darauf wagte Anton den Hals des Schwarzen zu streicheln, was der Pony wohlwollend aufnahm und seinerseits dem Fremdling die Rocktaschen beroch.

»Er hat Zutrauen zu Ihnen«, sagte das Fräulein, »er ist ein kluges Tier.« Sie warf ihm die Zügel über den Kopf und gab ihm einen Schlag, worauf der Pony in kurzen Sprüngen davonrannte. »Wir kommen in den Blumengarten, da darf er nicht hinein; er läuft zum Stall zurück; er ist's gewöhnt.«

»Dieser Pony ist ein Wunder von einem Pferde«, rief ihm Anton nach.

»Ich bin sein Liebling«, sagte das Fräulein bestimmend, »er folgt mir aufs Wort.« Anton fand die Anhänglichkeit des Pony natürlich, setzte dieselbe Empfindung beim Papagei voraus und war geneigt zu behaupten, daß alle übrige Kreatur der Erde eine ähnliche Stimmung gegen seine Führerin haben müsse.

»Ich denke, Sie sind von Familie«, fragte die junge Dame plötzlich, stemmte ihren Schirm gegen einen Baumast und sah Anton mit altklugem Blick an.

»Nein«, sagte der Sohn des Kalkulators traurig, »mein Vater starb vor vier Wochen, es ist ein Jahr,

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