Ungekürztes Werk "Die Leiden des Jungen Werthers" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 19)
sie hinsieht, Schmerzen lindert und Glückliche macht. Sie ging gestern abend mit Mariannen und dem kleinen Malchen spazieren, ich wußt es und traf sie an, und wir gingen zusammen. Nach einem Wege von anderthalb Stunden kamen wir gegen die Stadt zurück, an den Brunnen, der mir so wert ist und nun tausendmal werter ward, als Lotte sich aufs Mäuerchen setzte. Ich sah umher, ach! und die Zeit, da mein Herz so allein war, lebte wieder vor mir auf. »Lieber Brunn'«, sagt ich, »seither hab ich nicht mehr an deiner Kühle geruht, habe in eilendem Vorübergehn dich manchmal nicht angesehn.« Ich blickte hinab und sah, daß Malchen mit einem Glase Wasser sehr beschäftigt heraufstieg. Ich sahe Lotten an und fühlte alles, was ich an ihr habe. Indem so kommt Malchen mit einem Glase, Marianne wollt es ihr abnehmen. »Nein!« rufte das Kind mit dem süßten Ausdrucke, »nein, Lottchen, du sollst zuerst trinken!« Ich ward über die Wahrheit, die Güte, womit sie das ausrief, so entzückt, daß ich meine Empfindung mit nichts ausdrucken konnte, als ich nahm das Kind von der Erde und küßte es lebhaft, das sogleich zu schreien und zu weinen anfing. »Sie haben übel getan«, sagte Lotte! Ich war betroffen. »Komm, Malchen«, fuhr sie fort, indem sie es an der Hand nahm und die Stufen hinabführte, »da wasche dich aus der frischen Quelle, geschwind, geschwind, da tut's nichts.« Wie ich so da stund und zusah, mit welcher Emsigkeit das Kleine mit seinen nassen Händchen die Backen rieb, mit welchem Glauben, daß durch die Wunderquelle alle Verunreinigung abgespült und die Schmach abgetan würde, einen häßlichen Bart zu kriegen. Wie Lotte sagte: »Es ist genug« und das Kind doch immer eifrig fortwusch, als wenn viel mehr täte als wenig. Ich sage Dir, Wilhelm, ich habe mit mehr Respekt nie einer Taufhandlung beigewohnt, und als Lotte heraufkam, hätte ich mich gern vor ihr niedergeworfen wie vor einem Propheten, der die Schulden einer Nation weggeweiht hat.
Des Abends konnt ich nicht umhin, in der Freude meines Herzens den Vorfall einem Manne zu erzählen, dem ich Menschensinn zutraute, weil er Verstand hat. Aber wie kam ich an. Er sagte, das wäre sehr übel von Lotten gewesen, man solle die Kinder nichts weismachen, dergleichen gäbe zu unzähligen Irrtümern und Aberglauben Anlaß, man müßte die Kinder frühzeitig davor bewahren. Nun fiel mir ein, daß der Mann vor acht Tagen hatte taufen lassen, drum ließ ich's vorbeigehn und blieb in meinem Herzen der Wahrheit getreu: wir sollen es mit den Kindern machen wie Gott mit uns, der uns am glücklichsten macht, wenn er uns im freundlichen Wahne so hintaumeln läßt.
Am 8. Juli.
Was man ein Kind ist! Was man nach so einem Blicke geizt! Was man ein Kind ist! Wir waren nach Wahlheim gegangen, die Frauenzimmer fuhren hinaus, und während unsrer Spaziergänge glaubt ich in Lottens schwarzen Augen – Ich bin ein Tor, verzeih mir's, Du solltest sie sehn, diese Augen. Daß ich kurz bin, denn die Augen fallen mir zu vom Schlaf. Siehe, die Frauenzimmer stiegen ein,