Ungekürztes Werk "Die Leiden des Jungen Werthers" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 22)
hätt ihn gern beim Kopf genommen und geküßt, wenn ich mich nicht geschämt hätte.
Man erzählt von dem Bononischen Stein, daß er, wenn man ihn in die Sonne legt, ihre Strahlen anzieht und eine Weile bei Nacht leuchtet. So war mir's mit dem Jungen. Das Gefühl, daß ihre Augen auf seinem Gesicht, seinen Backen, seinen Rockknöpfen und dem Kragen am Surtout geruht hatten, machte mir das all so heilig, so wert, ich hätte in dem Augenblicke den Jungen nicht vor tausend Taler gegeben. Es war mir so wohl in seiner Gegenwart – Bewahre Dich Gott, daß Du darüber nicht lachst. Wilhelm, sind das Phantomen, wenn es uns wohl wird?
Den 19. Juli.
»Ich werde sie sehen«, ruf ich morgens aus, wenn ich mich ermuntre und mit aller Heiterkeit der schönen Sonne entgegenblicke. »Ich werde sie sehen!« Und da habe ich für den ganzen Tag keinen Wunsch weiter. Alles, alles verschlingt sich in dieser Aussicht.
Den 20. Juli.
Eure Idee will noch nicht die meinige werden, daß ich mit dem Gesandten nach *** gehen soll. Ich liebe die Subordination nicht sehr, und wir wissen alle, daß der Mann noch dazu ein widriger Mensch ist. Meine Mutter möchte mich gern in Aktivität haben, sagst Du, das hat mich zu lachen gemacht, bin ich jetzt nicht auch aktiv? und ist's im Grund nicht einerlei: ob ich Erbsen zähle oder Linsen? Alles in der Welt läuft doch auf eine Lumperei hinaus, und ein Kerl, der um anderer willen, ohne daß es seine eigene Leidenschaft ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer ein Tor.
Am 24. Juli.
Da Dir so viel daran gelegen ist, daß ich mein Zeichnen nicht vernachlässige, möcht ich lieber die ganze Sache übergehn als Dir sagen: daß zeither wenig getan wird.
Noch nie war ich glücklicher, noch nie meine Empfindung an der Natur, bis aufs Steinchen, aufs Gräschen herunter, voller und inniger, und doch – ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, meine vorstellende Kraft ist so schwach, alles schwimmt, schwankt vor meiner Seele, daß ich keinen Umriß packen kann; aber ich bilde mir ein, wenn ich Ton hätte oder Wachs, so wollt ich's wohl herausbilden, ich werde auch Ton nehmen, wenn's länger währt, und kneten, und sollten's Kuchen werden.
Lottens Porträt habe ich dreimal angefangen und habe mich dreimal prostituiert, das mich um so mehr verdrießt, weil ich vor einiger Zeit sehr glücklich im Treffen war, darauf hab ich denn ihren Schattenriß gemacht, und damit soll mir genügen.
Am 26. Juli.
Ich habe mir schon so manchmal vorgenommen, sie nicht so oft zu sehn. Ja, wer das halten könnte! Alle Tage unterlieg ich der Versuchung und verspreche mir heilig: morgen willst du einmal wegbleiben, und wenn der Morgen kommt, find ich doch wieder eine unwiderstehliche Ursache, und eh ich mich's versehe, bin ich bei ihr. Entweder sie hat des Abends gesagt: »Sie kommen doch morgen?« Wer könnte da wegbleiben? Oder der Tag ist gar zu schön, ich gehe nach Wahlheim, und wenn ich so da bin – ist's nur noch eine