Ungekürztes Werk "Die Leiden des Jungen Werthers" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 33)

doch alles, was ich kann, sind sie doch gekleidet, genährt, ach, und was mehr ist als das alles, gepflegt und geliebet. Könntest du unsere Eintracht sehn, liebe Heilige! du würdest mit dem heißesten Danke den Gott verherrlichen, den du mit den letzten, bittersten Tränen um die Wohlfahrt deiner Kinder batst.‹« Sie sagte das! O Wilhelm! wer kann wiederholen, was sie sagte, wie kann der kalte, tote Buchstabe diese himmlische Blüte des Geistes darstellen. Albert fiel ihr sanft in die Rede: »Es greift Sie zu stark an, liebe Lotte, ich weiß, Ihre Seele hängt sehr nach diesen Ideen, aber ich bitte Sie–« – »O Albert«, sagte sie, »ich weiß, du vergißt nicht die Abende, da wir zusammen saßen an dem kleinen runden Tischchen, wenn der Papa verreist war und wir die Kleinen schlafen geschickt hatten. Du hattest oft ein gutes Buch und kamst so selten dazu, etwas zu lesen. War der Umgang dieser herrlichen Seele nicht mehr als alles! die schöne, sanfte, muntere und immer tätige Frau! Gott kennt meine Tränen, mit denen ich mich oft in meinem Bette vor ihn hinwarf: er möchte mich ihr gleich machen.«

»Lotte!« rief ich aus, indem ich mich vor sie hinwarf, ihre Hände nahm und mit tausend Tränen netzte. »Lotte, der Segen Gottes ruht über dir und der Geist deiner Mutter!« – »Wenn Sie sie gekannt hätten!« sagte sie, indem sie mir die Hand drückte, »sie war wert, von Ihnen gekannt zu sein.« Ich glaubte zu vergehen; nie war ein größeres, stolzeres Wort über mich ausgesprochen worden, und sie fuhr fort: »Und diese Frau mußte in der Blüte ihrer Jahre dahin, da ihr jüngster Sohn nicht sechs Monate alt war. Ihre Krankheit dauerte nicht lange; sie war ruhig, resigniert, nur ihre Kinder taten ihr weh, besonders das kleine. Wie es gegen das Ende ging und sie zu mir sagte: ›Bring mir sie herauf!‹ und wie ich sie hereinführte, die kleinen, die nicht wußten, und die ältesten, die ohne Sinne waren, wie sie ums Bett standen und wie sie die Hände aufhub und über sie betete und sie küßte nacheinander und sie wegschickte und zu mir sagte: ›Sei ihre Mutter!‹ Ich gab ihr die Hand drauf! ›Du versprichst viel, meine Tochter‹, sagte sie, ›das Herz einer Mutter und das Aug einer Mutter! Ich hab oft an deinen dankbaren Tränen gesehen, daß du fühlst, was das sei. Hab es für deine Geschwister und für deinen Vater die Treue, den Gehorsam einer Frau. Du wirst ihn trösten.‹ Sie fragte nach ihm, er war ausgegangen, um uns den unerträglichen Kummer zu verbergen, den er fühlte, der Mann war ganz zerrissen.

Albert, du warst im Zimmer! Sie hörte jemand gehn und fragte und forderte dich zu ihr. Und wie sie dich ansah und mich, mit dem getrösteten, ruhigen Blicke, daß wir glücklich sein, zusammen glücklich sein würden.« Albert fiel ihr um den Hals und küßte sie und rief: »Wir sind's! wir werden's sein.« Der ruhige Albert war ganz aus seiner Fassung, und ich wußte nichts von mir selber.

»Werther«, fing sie an,

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