Ungekürztes Werk "Die Leiden des Jungen Werthers" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 35)
nur gerade fortarbeiten, so finden wir gar oft, daß wir mit all unserm Schlendern und Lavieren es weiter bringen als andre mit ihren Segeln und Rudern – und – das ist doch ein wahres Gefühl seiner selbst, wenn man andern gleich oder gar vorlauft.
Am 10. Nov.
Ich fange an, mich insofern ganz leidlich hier zu befinden. Das Beste ist, daß es zu tun genug gibt, und dann die vielerlei Menschen, die allerlei neue Gestalten machen mir ein buntes Schauspiel vor meiner Seele. Ich habe den Grafen C... kennen lernen, einen Mann, den ich jeden Tag mehr verehren muß. Einen weiten, großen Kopf, und der deswegen nicht kalt ist, weil er viel übersieht; aus dessen Umgange so viel Empfindung für Freundschaft und Liebe hervorleuchtet. Er nahm teil an mir, als ich einen Geschäftsauftrag an ihn ausrichtete und er bei den ersten Worten merkte, daß wir uns verstunden, daß er mit mir reden konnte wie nicht mit jedem. Auch kann ich sein offnes Betragen gegen mich nicht genug rühmen. So eine wahre, warme Freude ist nicht in der Welt, als eine große Seele zu sehen, die sich gegen einen öffnet.
Am 24. Dez.
Der Gesandte macht mir viel Verdruß, ich hab es vorausgesehn. Es ist der pünktlichste Narre, den's nur geben kann. Schritt vor Schritt und umständlich wie eine Base. Ein Mensch, der nie selbst mit sich zufrieden ist und dem's daher niemand zu Danke machen kann. Ich arbeite gern leicht weg, und wie's steht, so steht's, da ist er imstande, mir einen Aufsatz zurückzugeben und zu sagen: »Er ist gut, aber sehen Sie ihn durch, man findt immer ein besser Wort, eine reinere Partikel.« Da möcht ich des Teufels werden. Kein Und, kein Bindwörtchen sonst darf außenbleiben, und von allen Inversionen, die mir manchmal entfahren, ist er ein Todfeind. Wenn man seinen Period nicht nach der hergebrachten Melodie heraborgelt, so versteht er gar nichts drinne. Das ist ein Leiden, mit so einem Menschen zu tun zu haben.
Das Vertrauen des Grafen von C... ist noch das einzige, was mich schadlos hält. Er sagte mir letzthin ganz aufrichtig, wie unzufrieden er über die Langsamkeit und Bedenklichkeit meines Gesandten sei. »Die Leute erschweren sich's und andern. Doch«, sagt er, »man muß sich darein resignieren wie ein Reisender, der über einen Berg muß. Freilich! wär der Berg nicht da, wäre der Weg viel bequemer und kürzer, er ist nun aber da! und es soll drüber!«
Mein Alter spürt auch wohl den Vorzug, den mir der Graf vor ihm gibt, und das ärgert ihn, und er ergreift jede Gelegenheit, Übels gegen mich vom Grafen zu reden, ich halte, wie natürlich, Widerpart, und dadurch wird die Sache nur schlimmer. Gestern gar bracht er mich auf, denn ich war mitgemeint. Zu so Weltgeschäften wäre der Graf ganz gut, er hätte viel Leichtigkeit zu arbeiten und führte eine gute Feder, doch an gründlicher Gelehrsamkeit mangelt es ihm wie all den Belletristen. Darüber hätt ich ihn gern ausgeprügelt, denn weiter ist mit den Kerls nicht zu räsonieren; da das aber nun nicht