Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 364)

macht, wollen wir uns Ihrer Vorsorge für meine arme Nichte wieder erinnern.”

Noch selbigen Abend ward man durch die Ankunft der Gräfin überrascht. Wilhelm bebte an allen Gliedern, als sie hereintrat, und sie, obgleich vorbereitet, hielt sich an ihrer Schwester, die ihr bald einen Stuhl reichte. Wie sonderbar einfach war ihr Anzug und wie verändert ihre Gestalt! Wilhelm durfte kaum auf sie hinblicken; sie begrüßte ihn mit Freundlichkeit, und einige allgemeine Worte konnten ihre Gesinnung und Empfindungen nicht verbergen. Der Marchese war beizeiten zu Bette gegangen, und die Gesellschaft hatte noch keine Lust, sich zu trennen; der Abbé brachte ein Manuskript hervor. “Ich habe”, sagte er, “sogleich die sonderbare Geschichte, wie sie mir anvertraut wurde, zu Papiere gebracht. Wo man am wenigsten Tinte und Feder sparen soll, das ist beim Aufzeichnen einzelner Umstände merkwürdiger Begebenheiten.” Man unterrichtete die Gräfin, wovon die Rede sei, und der Abbé las:

“Meinen Vater”, sagte der Marchese, “muß ich, soviel Welt ich auch gesehen habe, immer für einen der wunderbarsten Menschen halten. Sein Charakter war edel und gerade, seine Ideen weit und man darf sagen groß: er war streng gegen sich selbst; in allen seinen Planen fand man eine unbestechliche Folge, an allen seinen Handlungen eine ununterbrochene Schrittmäßigkeit. So gut sich daher von einer Seite mit ihm umgehen und ein Geschäft verhandeln ließ, sowenig konnte er um ebendieser Eigenschaften willen sich in die Welt finden, da er vom Staate, von seinen Nachbaren, von Kindern und Gesinde die Beobachtung aller der Gesetze forderte, die er sich selbst auferlegt hatte. Seine mäßigsten Forderungen wurden übertrieben durch seine Strenge, und er konnte nie zum Genuß gelangen, weil nichts auf die Weise entstand, wie er sich’s gedacht hatte. Ich habe ihn in dem Augenblicke, da er einen Palast bauete, einen Garten anlegte, ein großes neues Gut in der schönsten Lage erwarb, innerlich mit dem ernstesten Ingrimm überzeugt gesehen, das Schicksal habe ihn verdammt, enthaltsam zu sein und zu dulden. In seinem Äußerlichen beobachtete er die größte Würde; wenn er scherzte, zeigte er nur die Überlegenheit seines Verstandes; es war ihm unerträglich, getadelt zu werden, und ich habe ihn nur einmal in meinem Leben ganz außer aller Fassung gesehen, da er hörte, daß man von einer seiner Anstalten wie von etwas. Lächerlichem sprach. In ebendiesem Geiste hatte er über seine Kinder und sein Vermögen disponiert. Mein ältester Bruder ward als ein Mann erzogen, der künftig große Güter zu hoffen hatte; ich sollte den geistlichen Stand ergreifen und der Jüngste Soldat werden. Ich war lebhaft, feurig, tätig, schnell, zu allen körperlichen Übungen geschickt. Der Jüngste schien zu einer Art von schwärmerischer Ruhe geneigter, den Wissenschaften, der Musik und der Dichtkunst ergeben. Nur nach dem härtsten Kampf, nach der völligsten Überzeugung der Unmöglichkeit gab der Vater, wiewohl mit Widerwillen, nach, daß wir unsern Beruf umtauschen dürften, und ob er gleich jeden von uns beiden zufrieden sah, so konnte er sich doch nicht drein finden und versicherte, daß nichts Gutes daraus entstehen werde. Je älter er ward, desto abgeschnittener fühlte er sich von aller Gesellschaft.

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