Ungekürztes Werk "Wilhelm Meisters Lehrjahre" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 10)

genötigt war, mit der Hand hinunterzugreifen und ihn zu holen: ein Zufall, der die Illusion sehr unterbrach, ein großes Gelächter verursachte und mich unsäglich kränkte. Auch schien dieses Versehn dem Vater sehr willkommen zu sein, der das große Vergnügen, sein Söhnchen so fähig zu sehen, wohlbedächtig nicht an den Tag gab, nach geendigtem Stücke sich gleich an die Fehler hing und sagte, es wäre recht artig gewesen, wenn nur dies oder das nicht versagt hätte.

Mich kränkte das innig, ich ward traurig für den Abend, hatte aber am kommenden Morgen allen Verdruß schon wieder verschlafen und war in dem Gedanken selig, daß ich, außer jenem Unglück, trefflich gespielt habe. Dazu kam der Beifall der Zuschauer, welche durchaus behaupteten: obgleich der Lieutenant in Absicht der groben und feinen Stimme sehr viel getan habe, so peroriere er doch meist zu affektiert und steif; dagegen spreche der neue Anfänger seinen David und Jonathan vortrefflich; besonders lobte die Mutter den freimütigen Ausdruck, wie ich den Goliath herausgefordert und dem Könige den bescheidenen Sieger vorgestellt habe.

Nun blieb zu meiner größten Freude das Theater aufgeschlagen, und da der Frühling herbeikam und man ohne Feuer bestehen konnte, lag ich in meinen Frei- und Spielstunden in der Kammer und ließ die Puppen wacker durcheinanderspielen. Oft lud ich meine Geschwister und Kameraden hinauf; wenn sie aber auch nicht kommen wollten, war ich allein oben. Meine Einbildungskraft brütete über der kleinen Welt, die gar bald eine andere Gestalt gewann.

Ich hatte kaum das erste Stück, wozu Theater und Schauspieler geschaffen und gestempelt waren, etlichemal aufgeführt, als es mir schon keine Freude mehr machte. Dagegen waren mir unter den Büchern des Großvaters die ‚Deutsche Schaubühne‘ und verschiedene italienisch-deutsche Opern in die Hände gekommen, in die ich mich sehr vertiefte und jedesmal nur erst vorne die Personen überrechnete und dann sogleich ohne weiteres zur Aufführung des Stückes schritt. Da mußte nun König Saul in seinem schwarzen Samtkleide den Chaumigrem, Cato und Darius spielen; wobei zu bemerken ist, daß die Stücke niemals ganz, sondern meistenteils nur die fünften Akte, wo es an ein Totstechen ging, aufgeführt wurden.

Auch war es natürlich, daß mich die Oper mit ihren mannigfaltigen Veränderungen und Abenteuern mehr als alles anziehen mußte. Ich fand darin stürmische Meere, Götter, die in Wolken herabkommen, und, was mich vorzüglich glücklich machte, Blitze und Donner. Ich half mir mit Pappe, Farbe und Papier, wußte gar trefflich Nacht zu machen, der Blitz war fürchterlich anzusehen, nur der Donner gelang nicht immer, doch das hatte so viel nicht zu sagen. Auch fand sich in den Opern mehr Gelegenheit, meinen David und Goliath anzubringen, welches im regelmäßigen Drama gar nicht angehen wollte. Ich fühlte täglich mehr Anhänglichkeit für das enge Plätzchen, wo ich so manche Freude genoß; und ich gestehe, daß der Geruch, den die Puppen aus der Speisekammer an sich gezogen hatten, nicht wenig dazu beitrug.

Die Dekorationen meines Theaters waren nunmehr in ziemlicher Vollkommenheit; denn daß ich von Jugend auf ein Geschick gehabt hatte, mit dem Zirkel umzugehen, Pappe auszuschneiden und Bilder zu illuminieren, kam mir jetzt wohl

Seiten