Interpretation "Die Leiden des jungen Werthers" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 4)

Werther weiß um seinen psychischen Grundmangel. Nicht erst, als er bei der Begegnung mit dem Geisteskranken (Brief vom 30. November 1772) Parallelen zu sich selber feststellt. Schon viel früher schreibt er: "Ich könnte das beste, glücklichste Leben führen, wenn ich nicht ein Tor wäre", und an anderem Ort: "Es ist wahr, wenn meine Krankheit zu heilen wäre [...]"– selbst Lotte drückt es, trotz ihrer vorsichtigen, schonenden Art, schließlich unverblümt aus: "Werther, Sie sind sehr krank."

Noch aussagekräftiger sind die Stellen, in denen Werther seinen Zustand nicht nur benennt, sondern auch auf das Wesen seines Leidens ein Licht wirft. Sein Ausruf "was ist unserm Herzen die Welt ohne Liebe!" ist alles andere als eine Phrase; Werther spricht in dieser verallgemeinernden Formulierung seine persönliche Ur-Bedürftigkeit aus, die er am 19. Oktober 1772 auf erschütternde Weise offenlegt: "Ach diese Lücke! Diese entsetzliche Lücke, die ich hier in meinem Busen fühle! Ich denke oft: wenn du sie nur einmal an dieses Herz drücken könntest! All diese Lücke würde ausgefüllt sein."

Treffender kann das erworbene Defizit an (Mutter-)Liebe und die Projektion auf Lotte als 'Erlöserin' nicht geäußert werden. Mehrmals beschreibt Werther, wie er aus der Ferne nach ihr die Arme ausstreckt: in dieser Geste der kindlichen Hilflosigkeit aktualisiert sich sein Mangelerlebnis; seine Sehnsucht nach Lotte ist der Reflex des inneren Gefühls, nicht 'vollständig' zu sein: "ich habe so viel, und ohne sie wird mir alles zu nichts." ("Am 27. Oktober abends." Diese Stelle stammt aus der zweiten Fassung; in der kompositionell überarbeiteten Version wurde dieser Aspekt also noch betont.). Und noch deutlicher (in beiden Fassungen): "Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles" – hier ist der wahre Ursprung seiner Leiden auf den Punkt gebracht.

Auch die Episoden der Magd, die sich aus Liebeskummer ertränkt, die in der zweiten Fassung eingefügte Episode des Knechts, der aus enttäuschter Liebe seinen Rivalen ermordet, und die seines Quasi-Doppelgängers, des in den Wahnsinn geflüchteten ehemaligen Schreibers bei Lottes Vater, sind nicht nur durch das Motiv der gescheiterten Liebesbeziehung mit Werthers Schicksal verbunden. Ihnen allen ist gemeinsam, dass der Verlust der geliebten Person die eigene Leere offenbart – zumindest in Werthers Interpretation: Für die Magd ist alles "Finsternis um sie her, keine Aussicht, kein Trost, keine Ahndung; denn der hat sie verlassen, in dem sie allein ihr Dasein fühlte"; auch im eifersüchtigen, wohl vor allem von sexueller Begierde überwältigten Knecht sieht er einen Leidensgenossen: "[...] wie ich an seinem Schicksale teilnehme, teilnehmen muß! Doch genug, da Du auch mein Schicksal kennst, auch mich kennst, so weißt Du nur zu wohl, was mich zu allen Unglücklichen, was mich besonders zu diesem Unglücklichen hinzieht." (Zweite Fassung, "Am 4. Sept.") Die Zeilen sind formal an Wilhelm gerichtet, in Wirklichkeit aber spricht Werther mit sich selbst, ebenso wenn er dem geistig Umnachteten zuruft: "Du fühlst nicht! Du fühlst nicht! daß in deinem zerstörten Herzen, in deinem zerrütteten Gehirne dein Elend liegt, wovon alle Könige der Erde dir nicht helfen können."

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