Interpretation "Die Leiden des jungen Werthers" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 6)

Explizit erfahren wir sehr wenig über ihn, scheint er doch nur eine Figur zu sein, die die Form des Briefromans innertextlich rechtfertigen soll. Doch dieses Wenige, das aus den Reaktionen Werthers auf Wilhelms – im Text nicht enthaltenen – Antwortbriefe hervorgeht, genügt. Was schreibt dieser als "Bruder", "Lieber", "mein Schatz" angeredete Freund? Nichts. Nichts, das der Seelennot des Titelhelden irgendwie eine Möglichkeit böte, sich aus der ihn umklammernden Falle zu befreien, obwohl er der einzige ist, der – außer den Mitbeteiligten Lotte und Albert – Einblick in das volle Ausmaß des Dramas hat. Anfangs fragt er nach, warum Werther lange nicht geschrieben hätte, und bringt ihn so zum Bericht über die erste Begegnung mit Lotte. Das Nächste, das wir von ihm erfahren, ist, dass er, offenbar im Auftrag von Werthers Mutter, ihm die Stelle bei einer Gesandtschaft nahelegt und ihn ermahnt, das Zeichnen nicht zu vernachlässigen (Briefe vom 20. und 24. Juli 1771).

Damit sind die weiteren 'Beiträge' Wilhelms bereits charakterisiert: das einzige, wozu er fähig ist, sind allgemeine Ratschläge, die in keiner Weise auf die seelische Lage Werthers eingehen, sondern sich auf 'praktische Tips für Verzweifelnde' beschränken: abreisen, die Stelle am Hof nicht aufgeben, den Urlaub auf dem Jagdschloß eines Fürsten auskosten und, peinlich, den Trost der christlichen Religion zu suchen ... – "Ich danke Dir, Wilhelm, für Deinen herzlichen Anteil, für Deinen wohlmeinenden Rat" – das meint Werther nicht ironisch, und doch spürt er, wie wenig ihm sein Freund geben kann.

Selbstverständlich ist Wilhelm kein Therapeut, und es wäre sinnlos, einer fiktiven Person die Schuld am vielleicht nicht vermeidbaren Selbstmord einer anderen fiktiven Person in die Schuhe zu schieben. Aber hier, in der Figur des Wilhelm, versagt die bürgerliche Gesellschaft aufs Erbärmlichste. Schlimmer als die Ablehnung, die Werther durch den adligen Stand erfährt, ist die aus der freiwilligen Bindung an herrschende Konventionen hervorgehende Hilflosigkeit seines Freundes und Standesgenossen, wobei es letztendlich gleich ist, ob Wilhelm die Leiden des jungen Werther versteht oder nicht: ernstgenommen kann dieser sich nicht fühlen.

Zum Schluss noch der Hinweis auf den autobiographischen Hintergrund: Goethe hat im Werther eigene Erfahrungen zu Papier gebracht, nämlich seine Begegnung mit Charlotte Buff in Wetzlar, die er als Verlobte des Legationssekretärs Johann Christian Kestner kennenlernt. Dieser ist es pikanterweise, der ihm die näheren Umstände (inkl. Kleiderwahl) über den Selbstmord eines gewissen Karl Wilhelm Jerusalem, eines weitläufigen Bekannten, schriftlich übermittelt. Sein Bericht endet folgendermaßen: "Barbiergesellen haben ihn getragen; das Kreuz ward vorausgetragen; kein Geistlicher hat ihn begleitet."

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