Interpretation "Die Wahlverwandschaften" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 2)

So baut sich eine grundlegende Opposition auf, die von 'natürlicher' gegenüber 'moralischer' Ordnung, wobei beachtenswert ist, dass eben nicht eine als chaotisch gedachte Natur einem menschlich-geordneten System gegenübersteht, sondern zwei sich widersprechende und miteinander um die Vorherrschaft ringende Ordnungen. So wird das tragische Ende verschuldet durch Charlottes Unfähigkeit zum 'Paradigmenwechsel': Indem sie zu lange an der einen Ordnung festhält, nachdem schon längst die andere, die der Natur, auf den Plan getreten ist und ihr Recht gefordert hat, leistet sie der Katastrophe Vorschub. Wenn sie zuletzt einsieht: "[...] durch mein Zaudern, durch mein Widerstreben, habe ich das Kind getötet. Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt. Vergebens, daß Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in den Weg stellen; [...] es greift zuletzt durch, wir mögen uns gebärden, wie wir wollen" – da ist es bereits zu spät. Sie ihrerseits hat hartnäckig auf der Durchsetzung der bürgerlichen Moral bestanden, indem sie der Ehe einen Stellenwert zugemessen hat, der im Roman selbst vielfach, am deutlichsten im mentalen Ehebruch, als obsolet dargestellt wird. Schon dass beide – verwitwet – bereits andere und wenig glückliche Vernunftehen hinter sich haben, entzieht Charlottes Absolutheitsanspruch, den sie an die Ehe stellt, jede Grundlage.

Ist Charlottes Charakter geprägt von verinnerlichter bürgerlicher Ordnung, so ist Ottilie ihr Gegenpol. Sie verkörpert die passiv-leidende Seite der Naturordnung: Sie fühlt sich beim Anblick der Fresken in der Kapelle, die das Bild des "verschwundenen goldenen Zeitalter[s]" zeigen, wie "unter ihresgleichen"; "wer sie erblickt, den kann nichts Übles anwehen; er fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Übereinstimmung." Sie lebt in unbewusster, natürlicher Unschuld, aus der sie erst der von ihr verschuldete Tod des Kindes reißt: "Ich bin aus meiner Bahn geschritten, und ich soll nicht wieder hinein. Ein feindseliger Dämon hat Macht über mich gewonnen, scheint mich von außen zu hindern, hätte ich mich auch mit mir selbst wieder zur Einigkeit gefunden."

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