Interpretation "Die Wahlverwandschaften" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 4)

Dadurch bekommen sie aber auch ihren gesellschaftskritischen Aspekt. Nicht anders hier. Mit dem Auftreten Lucianes im zweiten Teil weitet sich die Thematik nämlich aus in den gesellschaftlichen Bereich. Luciane ist das genaue Gegenteil von Ottilie. Während Ottilie still, ernsthaft, zurückgezogen, manchmal geradezu pflanzenhaft-unbewusst lebt, "peitschte Luciane den Lebensrausch im geselligen Strudel immer vor sich her." Von wachem Verstand, aber negativ in ihrer Grundeinstellung, macht sie sich über alles lustig: "[...] eins wie das andere wurde durch ihre spöttischen Bemerkungen gleichsam aufgezehrt, so daß man sich hätte verwundern sollen, wie fünf Meilen umher irgend etwas nur noch existierte." In Luciane triumphiert die Oberfläche über die Tiefe, die Gesellschaft über die Natur. Wenn sie Ottilie geradezu mit Bitterkeit und Verachtung gegenübersteht, so kompensiert sie damit ihr eigenes Defizit an Natürlichkeit. Dieses Defizit an Natürlichkeit eignet aber der ganzen Gesellschaftsordnung, und damit erhält das psycho-chemische Experiment des Romans Modellcharakter für die Kritik an einer überlebten Epoche.

Mit dieser Verknüpfung von Eheproblematik und Gesellschaftskritik stehen die Wahlverwandtschaften am Anfang einer Reihe großer Eheromane des 19. Jahrhunderts: Flauberts Madame Bovary, Tolstois Anna Karenina, Fontanes Effi Briest. Es spricht für die Modernität des Romans, dass einerseits die Zeitgenossen noch wenig damit anfangen können, dass andererseits Wilhelm Bölsche, ein Theoretiker des Naturalismus am Ende des 19. Jahrhunderts, in den Wahlverwandtschaften den ersten realistisch-psychologischen Roman in Deutschland sieht, der gar schon die Forderung des Naturalisten Emile Zola erfülle: "[...] die Wahlverwandtschaften geben bereits einen vollkommenen Spiegel ab für den von Zola so getauften 'Experimentalroman', und man kann im einzelnen bei sorgfältiger Analyse alle Vorzüge und alle Gefahren dieser ins Gebiet der Naturwissenschaft hinübergreifenden exakt psychologischen Dichtungsart an dem alten Buche so genau aufweisen, als gehöre es zeitlich zu den neuesten Erzeugnissen des Büchermarktes." (Zitiert nach: Theorie des Naturalismus. Hrsg. v. Theo Meyer. Stuttgart 1973)

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