Interpretation "Faust I und II" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 3)
Und doch: Wer sich, unbeeindruckt von dem monströsen Aufwand an Interpretationsmodellen, ganz der Lektüre überlässt, wird feststellen, dass eine Annäherung an dieses Werk nicht unabdingbar an philologische Spezialkenntnisse gebunden ist.
Zu allererst ist dabei mit zwei immer wieder gepflegten Vorurteilen aufzuräumen: Erstens, die Figur des Faust verkörpere einen 'genialen' Menschentypus; zweitens: das 'Faustische' sei eine irgendwie 'dem deutschen Wesen' immanente Problematik. Zum Genialen nur soviel: Dass Faust allerlei zu Ende studiert hat, bis er an die Grenzen der menschlichen Erkenntnis stößt, ist dramaturgisch notwendig. Denn einem Oberbuchhalter 'Müller zwo' würde man seine Verzweiflung an der menschlichen Erkenntnisfähigkeit nicht abnehmen, nur weil sich das Weltganze nicht ohne weiteres mit den Kategorien von Soll und Haben begreifen lässt. Es bedarf also einer Figur, die geistig die menschlichen Möglichkeiten bereits ausgeschöpft hat. Anders ausgedrückt: Die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis könnte nicht an einer von vornherein durch ihre individuelle Borniertheit eingeschränkten Gestalt demonstriert werden.
Die zweite These, Faust verkörpere das deutsche Wesen, widerlegt sich ganz von selbst: Wenn Faust irgendwo lokalisiert werden kann, dann in der gesamteuropäischen Geistesgeschichte, die geprägt ist von Antike, christlichem Mittelalter und neuzeitlicher Aufklärung. Ob Faust beispielsweise für die Menschen anderer Kulturen eine Bedeutung hat, sei dahingestellt. Jedenfalls ist seine Problematik – wenn nicht allgemein menschlich – so doch allgemein abendländisch-europäisch.
Spezifisch für dieses Weltbild ist z. B. die Aufteilung der Welt in Polaritäten. Die "zwei Seelen", die in Fausts Brust wohnen, und worunter er (ach) leidet, bezeichnen zunächst einmal nichts anderes als die in unserem Kulturkreis angenommene Doppelnatur des Menschen als Trieb- und Geistwesen. Schon Albrecht von Haller hat die Menschennatur als "unselig Mittelding von Engeln und von Vieh" (In: Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben) bezeichnet. Und wenn Mephisto bei seinem ersten Auftritt als Hund erscheint (wenn auch verniedlicht zum putzigen Pudel), so personifiziert sich in ihm die andere, die triebhafte Natur Fausts, die – so darf man aus dem Folgenden schließen – aufgrund seiner einseitig geistigen Tätigkeit bis ins fortgeschrittene Alter zu kurz gekommen ist. Seit dem Auftreten Mephistos jedenfalls fällt dieser Figur des freundlichen Teufels die Rolle des im weitesten Sinne Triebhaften zu. Dass ohne ihn bis zum bitteren (und dann doch noch in transzendentem Wohlgefallen sich auflösenden) Ende des zweiten Teils nichts mehr geht, ist die, man möchte fast sagen: ironisch-moderne, Aussage des ganzen Stücks.