Interpretation "Faust I und II" von Johann Wolfgang Goethe (Seite 7)

Erst wenn man sich diese Situation klarmacht, bekommt seine letztliche Rettung "von oben" ihren Sinn: Trotz seines "strebenden Bemühns" ist der Mensch aufgrund seiner Natur nicht in der Lage, sich zu erlösen. Er ist ein verfluchtes Geschöpf, zur Tugend und Güte gar nicht wirklich fähig außer als Vorwand für seine Gelüste, seien sie sexueller Art oder durch Machtstreben diktiert. Ebenso düster erscheint die Zukunft der Menschheit: In allen Versuchen, sich mittels Technik und Industrie die Natur dienstbar zu machen, hat von vornherein der Teufel seine Finger im Spiel. Die Opfer an Menschen und Menschlichkeit, die das industrielle Zeitalter fordert, sind im letzten Akt des Faust bereits vorausgeahnt. So ist die vielzitierte Vision Fausts eben wiederum nur ein Trugbild: "Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. / Zum Augenblicke dürft’ ich sagen; / Verweile doch, du bist so schön!" Und der Spott Mephistos ist so unberechtigt nicht: "Ihn sättigt keine Lust, ihm gnügt kein Glück, / So buhlt er fort nach wechselnden Gestalten; / Den letzten, schlechten, leeren Augenblick, / Der arme wünscht ihn festzuhalten."

Was im Faust zum Ausdruck kommt, ist ein pessimistisches Menschenbild, zugleich aber ein optimistisches Weltbild. Die Aufklärung hat seit Rousseau gepredigt, der Mensch sei von Natur aus gut. Wenn er sich böse verhält, sind die Umstände schuld daran. Darüber hinaus glaubt man, der Mensch bedürfe nur der 'Aufklärung', also der Erkenntnis, dann werde er ganz automatisch das Richtige, und das ist: Das Gute, tun, denn: Vernünftig ist gleich gut.

Das Menschenbild Goethes, wie es uns im Faust begegnet, ist in allem das Gegenteil. Und trotzdem gibt es eine Hoffnung: die Erlösung durch höhere Mächte. Bei aller geradezu katholisch anmutenden Bildhaftigkeit der letzten Szenen freilich soll man nicht vorschnell auf allzu christliches Gedankengut schließen. Man könnte sagen: der ganze Aufwand von Engeln bis hin zu dem auf- und abschwebenden Pater ecstaticus bietet sich als opulentes Bildmaterial an, um dem ganzen Werk einen angemessen pomphaft-opernhaften Schluss zu geben. Dass auf christlich-katholische Symbolik zurückgegriffen wird, hat dabei trotzdem seine innere Berechtigung. Denn die Idee eines durch sich selbst nicht zur Erlösung fähigen Menschen ist nun einmal genuin dem katholischen Denken eigen. Die Affinität der Romantik, die ja den Fortschrittsoptimismus der Aufklärung ebenso wenig teilt wie Goethe, zum Katholizismus (man denke nur an die Konversion Clemens Brentanos und anderer) ist ein zeittypisches Phänomen.

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