Ungekürztes Werk "Der Scheich von Alexandria und seine Sklaven" von Wilhelm Hauff (Seite 26)

gekommen war, setzte er sie behutsam nieder, und sie ging schnell vor ihm her dem See zu, wo die Kastanien standen. Er folgte ihr nur mit beklommenem Herzen; denn es war ja seine letzte, einzige Hoffnung; fand sie das Kräutlein nicht, so stand sein Entschluß fest: Er stürzte sich dann lieber in den See, als daß er sich köpfen ließ. Die Gans suchte aber vergebens; sie wandelte unter allen Kastanien, sie wandte mit dem Schnabel jedes Gräschen um – es wollte sich nichts zeigen; und sie fing aus Mitleid und Angst an zu weinen, denn schon wurde der Abend dunkler, und die Gegenstände umher waren schwerer zu erkennen.

Da fielen die Blicke des Zwerges über den See hin, und plötzlich rief er: »Siehe, siehe! Dort über dem See steht noch ein großer, alter Baum; laß uns dort hingehen und suchen, vielleicht blüht dort mein Glück.«

Die Gans hüpfte und flog voran, und er lief nach, so schnell seine kleinen Beine konnten. Der Kastanienbaum warf einen großen Schatten, und es war dunkel umher; fast war nichts mehr zu erkennen; aber da blieb plötzlich die Gans stillstehen, schlug vor Freuden mit den Flügeln, fuhr dann schnell mit dem Kopf ins hohe Gras und pflückte etwas ab, das sie dem erstaunten Nase zierlich mit dem Schnabel überreichte, und sprach: »Das ist das Kräutlein; und hier wächst eine Menge davon, so daß es dir nie daran fehlen wird.«

Der Zwerg betrachtete das Kraut sinnend; ein süßer Duft strömte ihm daraus entgegen, der ihn unwillkürlich an die Szene seiner Verwandlung erinnerte; die Stengel, die Blätter waren bläulichgrün, sie trugen eine brennendrote Blume mit gelbem Rande.

»Gelobt sei Gott!« rief er endlich aus. »Welches Wunder! Wisse, ich glaube, es ist dies dasselbe Kraut, das mich aus einem Eichhörnchen in diese schändliche Gestalt umwandelte; soll ich den Versuch machen?«

»Noch nicht«, bat die Gans. »Nimm von diesem Kraut eine Handvoll mit dir, laß uns auf dein Zimmer gehen und dein Geld und was du sonst hast zusammenraffen, und dann wollen wir die Kraft des Krautes versuchen.«

Sie taten also und gingen auf seine Kammer zurück, und das Herz des Zwerges pochte hörbar vor Erwartung. Nachdem er fünfzig oder sechzig Dukaten, die er erspart, einige Kleider und Schuhe zusammen in ein Bündel geknüpft hatte, sprach er: »So es Gott gefällig ist, werde ich diese Bürde loswerden«, streckte seine Nase tief in die Kräuter und sog ihren Duft ein.

Da zog und knackte es in allen seinen Gliedern; er fühlte, wie sich sein Kopf aus den Schultern hob; er schielte herab auf seine Nase und sah sie kleiner und kleiner werden; sein Rücken und seine Brust fingen an, sich zu ebnen, und seine Beine wurden länger. Die Gans sah mit Erstaunen diesem allem zu. »Ha, was du groß, was du schön bist!« rief sie. »Gott sei gedankt, es ist nichts mehr an dir von allem, was du vorher warst!«

Da freute sich Jakob sehr, und er faltete die Hände und betete. Aber seine Freude ließ ihn nicht vergessen, welchen Dank er der Gans Mimi schuldig sei. Zwar

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