Ungekürztes Werk "Die Karawane" von Wilhelm Hauff (Seite 64)

in langen weißen Gewändern hervortrat. »Ich weiß, warum du zu mir kommst, Sultan Saud; dein Wille ist redlich, darum soll dir auch meine Hilfe werden. Nimm diese zwei Kistchen. Laß jene beiden, welche deine Söhne sein wollen, wählen. Ich weiß, daß der, welcher der echte ist, das rechte nicht verfehlen wird.«

So sprach die Verschleierte und reichte ihm zwei kleine Kistchen von Elfenbein, reich mit Gold und Perlen verziert; auf dem Deckel, welchen der Sultan vergebens zu öffnen versuchte, standen Inschriften von eingesetzten Diamanten.

Der Sultan besann sich, als er nach Hause ritt, hin und her, was wohl in den Kistchen sein könnte, welche er mit aller Mühe nicht zu öffnen vermochte. Auch die Aufschrift gab ihm kein Licht in der Sache, denn auf dem einen stand »Ehre und Ruhm«, auf dem andern »Glück und Reichtum«. Der Sultan dachte bei sich, da würde auch ihm die Wahl schwer werden unter diesen beiden Dingen, die gleich anziehend, gleich lockend seien.

Als er in seinen Palast zurückgekommen war, ließ er die Sultanin rufen und sagte ihr den Ausspruch der Fee, und eine wunderbare Hoffnung erfüllte sie, daß jener, zu dem ihr Herz sie hinzog, das Kistchen wählen würde, welches seine königliche Abkunft beweisen sollte.

Vor dem Throne des Sultans wurden zwei Tische aufgestellt; auf sie setzte der Sultan mit eigener Hand die beiden Kistchen, bestieg dann den Thron und winkte einem seiner Sklaven, die Pforte des Saales zu öffnen. Eine glänzende Versammlung von Bassas und Emiren des Reiches, die der Sultan berufen hatte, strömte durch die geöffnete Pforte. Sie ließen sich auf prachtvollen Polstern nieder, welche die Wände entlang aufgestellt waren.

Als sie sich alle niedergelassen hatten, winkte der Sultan zum zweitenmal, und Labakan wurde herbeigeführt. Mit stolzem Schritte ging er durch den Saal, warf sich vor dem Throne nieder und sprach: »Was befiehlt mein Herr und Vater?«

Der Sultan erhob sich auf seinem Thron und sprach: »Mein Sohn, es sind Zweifel an der Echtheit deiner Ansprüche auf diesen Namen erhoben worden. Eines jener Kistchen enthält die Bestätigung deiner echten Geburt; wähle – ich zweifle nicht, du wirst das rechte wählen!«

Labakan erhob sich und trat vor die Kistchen; er erwog lange, was er wählen sollte, endlich sprach er: »Verehrter Vater, was kann es Höheres geben als das Glück, dein Sohn zu sein; was Edleres als den Reichtum deiner Gnade! Ich wähle das Kistchen, das die Aufschrift ›Glück und Reichtum‹ zeigt.«

»Wir werden nachher erfahren, ob du recht gewählt hast; einstweilen setze dich dort auf das Polster zum Bassa von Medina«, sagte der Sultan und winkte seinen Sklaven.

Omar wurde herbeigeführt; sein Blick war düster, seine Miene traurig, und sein Anblick erregte allgemeine Teilnahme unter den Anwesenden. Er warf sich vor dem Throne nieder und fragte nach dem Willen des Sultans.

Der Sultan deutete ihm an, daß er eines der Kistchen zu wählen habe; er stand auf und trat vor den Tisch.

Er las aufmerksam beide Inschriften und sprach: »Die letzten Tage haben mich gelehrt, wie unsicher das Glück, wie vergänglich der Reichtum ist; sie haben mich aber auch gelehrt, daß ein unzerstörbares

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